Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
Vom Netzwerk:
ermächtigte das Heer, diese mit Gewehrsalven niederzumähen.
    Nach Verlesung des Gesetzes löste ein Hauptmann inmitten eines ohrenbetäubenden Protestpfeifens den Leutnant auf dem Stationsdach ab und gab mit dem Grammophontrichter ein Zeichen, daß er zu sprechen wünsche. Die Menge verstummte.
    »Señoras und Señores«, sagte der Hauptmann mit leiser, langsamer, etwas müder Stimme. »Sie haben fünf Minuten, auseinanderzugehen.«
    Das Pfeifkonzert und das verstärkte Geschrei übertönten den Trompetenstoß, der den Beginn der Frist verkündete. Niemand rührte sich.
    »Die fünf Minuten sind vorbei«, sagte der Hauptmann im gleichen Ton. »Noch eine Minute, dann wird geschossen.«
    Schwitzend hob José Arcadio Segundo das Kind von den Schultern und übergab es der Frau. »Die Schweinehunde sind imstande und schießen«, murmelte sie. José Arcadio Segundo hatte keine Zeit zu sprechen, denn im selben Augenblick erkannte er die heisere Stimme des Oberst Gavilán, der mit einem Schrei das Echo auf die Worte der Frau gab. Trunken von der Spannung, von der wunderbaren Tiefe der Stille und überdies überzeugt, daß nichts die vom Todeszauber gebannte Menschenmenge von der Stelle bewegen würde, reckte José Arcadio Segundo sich über die vor ihm ragenden Köpfe, und zum erstenmal in seinem Leben hob er die Stimme.
    »Schweinehunde!« schrie er. »Wir schenken euch die Minute, die noch fehlt.«
    Am Ende seines Schreis geschah etwas, das nicht Schrecken auslöste, sondern eine Art von Betäubung. Der Hauptmann gab den Befehl zum Feuern, und vierzehn Maschinengewehrnester antworteten. Doch alles schien nur eine Posse zu sein. Es war, als seien die Maschinengewehre mit Platzpatronen geladen, denn man hörte zwar ihr keuchendes Geknatter, man sah ihr weißglühendes Spucken, aber man merkte nicht die geringste Reaktion, nicht eine Stimme, nicht einmal ein Seufzen in der festgefügten Menge, die von augenblicklicher Unverwundbarkeit versteint schien. Plötzlich, auf einer Seite des Bahnhofs, zerriß ein Todesschrei den Zauber: »Aaaay, meine Mutter.« Und nun brach inmitten der Menge mit unheimlichem Druck eine Erdbebenkraft aus, ein vulkanischer Atem, ein Weltuntergangsgebrüll. José Arcadio Segundo hatte kaum Zeit, das Kind hochzuheben, während die Mutter mit dem anderen von der panikgetriebenen, auseinanderstiebenden Menge mitgerissen wurde.
    Viele Jahre später sollte das Kind immer wieder erzählen, obgleich die Nachbarn es für eine altbackene Grille hielten, José Arcadio Buendía habe es auf seinen Kopf gehoben, dann habe er sich fast in der Luft, wie im Schrecken der Menge schwimmend, in eine Seitenstraße zerren lassen. Auf seinem Ausguck konnte das Kind sehen, daß die kopflose Menge an die Straßenecke gelangte, daß die Maschinengewehrreihe das Feuer eröffnete. Mehrere Stimmen schrien gleichzeitig:
    »Schmeißt euch auf den Boden! Schmeißt euch auf den Boden!«
    Niedergemäht von den Maschinengewehrsalven, hatten die ersten Reihen es bereits getan. Doch statt sich auf die Erde zu werfen, drängten die Überlebenden auf den kleinen Platz zurück, und nun warf die Panik sie mit einem Drachenschweifschlag in Form einer kompakten Welle gegen die andere kompakte Welle, die in entgegengesetzter Richtung floh, angetrieben von dem Drachenschweifschlag der gegenüberliegenden Straße, wo die Maschinengewehre gleichfalls erbarmungslos feuertet). So waren sie eingepfercht und kreisten in einem riesenhaften Wirbel, der allmählich auf seinen Schwerpunkt schrumpfte, weil seine Ränder von den unersättlichen, methodischen Scheren der Maschinengewehre rundherum systematisch geschält wurden wie eine Zwiebel. Das Kind sah eine kniende Frau mit kreuzartig verschränkten Armen in einem vom Beschuß geheimnisvoll verschonten reinen Raum. Dort legte José Arcadio Segundo es in dem Augenblick nieder, als er mit blutüberströmten Gesicht zusammenbrach, bevor die kolossale Horde den leeren Raum hinwegfegte mitsamt der knienden Frau, dem hohen Himmelslicht der Trockenzeit und mit der schändlichen Welt, in der Ursula Iguarán so viele Karameltierchen verkauft hatte.
    Als José Arcadio Segundo erwachte, lag er mit dem Gesicht nach oben im Dunkeln. Er merkte, daß er in einem endlosen, schweigsamen Zug fuhr, daß sein Haar blutverklebt war und daß ihn alle Knochen schmerzten. Er fühlte unerträgliche Müdigkeit. Bereit, viele Stunden zu schlafen, beschirmt gegen Terror und Horror, bettete er sich auf die am wenigsten

Weitere Kostenlose Bücher