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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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mit den Säureflaschen und sonstigen Instrumenten, die noch genauso standen, wie ihr Besitzer sie hinterlassen hatte, und nun schien er zu begreifen, daß in dieser Kammer niemand wohnte. Dennoch fragte er Aureliano Segundo schlau, ob er Silberschmied sei, und dieser erklärte, dies sei die Werkstatt des Oberst Aureliano Buendía gewesen. »Aha«, machte der Offizier, zündete das Licht an und befahl eine so eingehende Durchsuchung, daß ihnen auch nicht die achtzehn goldenen Fischchen entgingen, die noch nicht eingeschmolzen in ihrem Blechtopf hinter den Flaschen versteckt waren. Der Offizier prüfte sie nacheinander auf dem Arbeitstisch, und nun wurde er menschlich. »Ich würde gern eins mitnehmen, wenn Sie gestatten«, sagte er. »Sie waren einst ein Geheimzeichen des Aufstands, heute sind sie eine Reliquie.« Er war jung, fast noch ein Jüngling, ohne jede Schüchternheit und sympathisch auf eine natürliche Art, die bisher nicht aufgefallen war. Aureliano Segundo schenkte ihm das Fischchen. Mit kindlich leuchtenden Augen steckte der Offizier es in seine Hemdtasche, verwahrte die übrigen im Topf und stellte diesen an seinen Platz zurück.
    »Das ist ein unschätzbares Andenken«, sagte er. »Oberst Aureliano Buendía war einer unserer größten Männer.«
    Trotzdem änderte der Anfall von Menschlichkeit nicht sein dienstliches Verhalten. Vor Melchíades' neu verriegelter Kammer nahm Santa Sofía von der Frömmigkeit ihre Zuflucht zu einer letzten Hoffnung. »Seit fast einem Jahrhundert wohnt niemand in diesem Zimmer«, sagte sie. Der Offizier ließ öffnen, ließ seine Stablampe durch den Raum kreisen, und Aureliano Segundo und Santa Sofía von der Frömmigkeit sahen die Araberaugen José Arcadio Segundos in dem Augenblick, als das Strahlenbündel über sein Gesicht fuhr, und sie begriffen, daß dies das Ende einer Angst und der Anfang einer anderen sei, die nur im Entsagen Erleichterung finden würde. Doch der Offizier durchsuchte noch immer das Zimmer mit seiner Lampe und verriet keinerlei Zeichen von Interesse, bis er die zweiundsiebzig aufeinandergestapelten Nachttöpfe in den Schränken entdeckt hatte. Erst dann machte er Licht. José Arcadio Segundo saß auf dem Pritschenrand, bereit zum Aufbruch, jedoch feierlicher und nachdenklicher denn je. Im Hintergrund die Wandborde mit den zerlesenen Büchern, die Pergamentrollen, davor der sauber aufgeräumte Arbeitstisch, die noch frische Tinte in den Tintenfässern. Es lag die gleiche Reinheit in der Luft, die gleiche Durchsichtigkeit, die gleiche Ferne von Staub und Zerstörung, die Aureliano Segundo in seiner Kindheit gekannt und die nur Oberst Aureliano Buendía nicht bemerkt hatte. Doch der Offizier interessierte sich nur für die Nachttöpfe.
    »Wie viele Personen wohnen in diesem Haus?« fragte er. »Fünf.« Offenbar verstand der Offizier nicht. Er ließ den Blick auf dem Raum haften, wo Aureliano Segundo und Santa Sofía von der Frömmigkeit noch immer José Arcadio Segundo sahen, und auch dieser merkte, daß der Militär ihn anblickte, ohne ihn zu sehen. Dann löschte er das Licht und verschloß wieder die Tür. Als er mit seinen Soldaten sprach, begriff Aureliano Segundo, daß der junge Offizier das Zimmer mit denselben Augen gesehen hatte, mit denen Oberst Aureliano Buendía es gesehen hatte.
    »Es ist wahr, in diesem Zimmer ist zumindest ein Jahrhundert lang kein Mensch gewesen«, sagte der Offizier zu den Soldaten. »Hier müssen sogar Schlangen hausen.«
    Als die Tür ins Schloß fiel, hatte José Arcadio Segundo die Gewißheit, daß sein Krieg zu Ende war. Jahre vorher hatte Oberst Aureliano Buendía ihm von der Anziehungskraft des Krieges gesprochen und ihm dies an Hand von eigenen Erfahrungen zu beweisen versucht. Er hatte es geglaubt. Doch in der Nacht, als die Soldaten ihn anblickten, ohne ihn zu sehen, während er an die Spannung der letzten Monate dachte, an das Elend des Kerkers, an die Panik auf dem Bahnhofsplatz und an den mit Toten beladenen Güterzug, gelangte José Arcadio Segundo zu dem Schluß, daß Oberst Aureliano Buendía nichts anderes gewesen war als ein Possenreißer oder ein Dummkopf. Er verstand nicht, daß er so vieler Wörter bedurft hatte, um zu erklären, was er im Krieg fühlte, wenn eines genügte: Angst. In Melchíades' Kammer hingegen, beschirmt vom übernatürlichen Licht, vom Regenrauschen, von der Empfindung, unsichtbar zu sein, fand er die Ruhe, die er keine Sekunde lang in seinem bisherigen Leben verspürt hatte,

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