Hundert Jahre Einsamkeit
, richtete ihm Melchíades' wackelige Pritsche her und reichte ihm gegen zwei Uhr mittags, während Fernanda ihr Schlummerstündchen hielt, einen Teller Essen durchs Fenster.
Aureliano Segundo hatte zu Hause geschlafen, weil der Regen ihn dort überrascht hatte, und wartete noch um drei Uhr, daß er aufhöre. Insgeheim von Santa Sofía von der Frömmigkeit in Kenntnis gesetzt, besuchte er um diese Stunde seinen Bruder in Melchíades' Kammer. Auch er glaubte die Lesart von dem Gemetzel nicht, nicht den Alptraum des mit Toten beladenen Güterzugs, der zum Meer fuhr. In der vergangenen Nacht war eine Sonderbekanntmachung der Regierung veröffentlicht worden, nach der die Arbeiter dem Befehl, den Bahnhofsplatz zu räumen, nachgekommen waren und sich in friedlichen Kolonnen nach Hause begeben hatten. Die Bekanntmachung teilte außerdem mit, die Gewerkschaftsführer hätten in ihrer hohen vaterländischen Gesinnung ihre Forderungen auf zwei Punkte beschränkt: Reform der ärztlichen Betreuung und Einbau von Latrinen in den Behausungen. Später wurde mitgeteilt: sobald die Militärbehörden das Einverständnis der Arbeiter erhalten hatten, wurde eilends Señor Brown benachrichtigt, der nicht nur die neuen Bedingungen annahm, sondern auch der Bevölkerung einen Dreitagelohn zahlte, damit sie die Beilegung des Streits gebührend feiern könne. Erst als die Militärs ihn fragten, für welchen Tag sie die Unterzeichnung des Vertrags versprechen dürften, blickte er durchs Fenster in den blitzschraffierten Himmel und machte eine Gebärde völliger Ungewißheit.
»Wenn der Regen aufhört«, sagte er. »Solange der Regen dauert, ist jede Tätigkeit eingestellt.«
Es hatte seit drei Monaten nicht geregnet, und es war Trockenzeit. Doch als Señor Brown seinen Entschluß mitteilte, begann im ganzen Bananengebiet jener sturzbachartige, strömende Regen, der José Arcadio Segundo auf dem Weg nach Macondo überrascht hatte. Eine Woche später regnete es noch immer. Die offizielle, tausendmal wiederholte und von der Regierung im ganzen Land durch alle ihr zur Verfügung stehenden Informationsmedien wiedergekäute Lesart setzte sich schließlich durch: Es hatte keine Toten gegeben, die zufriedenen Arbeiter waren zu ihren Familien heimgekehrt, und die Bananengesellschaft hatte für die Dauer des Regens ihre Arbeit eingestellt. Das Standrecht war weiterhin in Kraft für den Fall, daß der Sturzregen Notverordnungen zum Wohl der Bevölkerung nötig mache, doch die Truppen waren kaserniert. Tagsüber gingen die Soldaten mit hochgekrempelten Hosen durch die Straßen und spielten Schiffbruch mit den Kindern. Abends, nach dem Zapfenstreich, stießen sie mit ihren Gewehrkolben Türen ein, zerrten Verdächtige aus den Betten und nahmen sie auf eine Reise ohne Heimkehr mit. Das war noch immer die Fahndung und Ausrottung der Übeltäter, Mörder, Brandstifter und Aufrührer gegen das Gesetz Nummer Vier, doch die Militärs stritten es selbst den Verwandten ihrer Opfer gegenüber ab, welche die Diensträume der Kommandanten auf der Suche nach Auskünften überschwemmten. »Muß ein Traum gewesen sein«, betonten die Offiziere beharrlich. »In Macondo ist nichts passiert, passiert nichts, und wird auch nichts passieren. Es ist ein glückliches Dorf.« So vollendeten sie die Ausrottung der Gewerkschaftsführer.
Der einzige Überlebende war José Arcadio Segundo. Eines Abends im Februar hörte man an der Tür unverkennbare Gewehrkolbenstöße. Aureliano Segundo, der noch immer auf das Ende des Regens wartete, öffnete sechs Soldaten unter dem Befehl eines Offiziers. Regendurchnäßt, ohne ein Wort zu sagen, durchsuchten sie das Haus Zimmer für Zimmer, Schrank um Schrank, von den Wohnzimmern bis zur Speisekammer. Ursula erwachte, als jene Licht im Zimmer machten, und muckste sich nicht, solange die Untersuchung dauerte, hielt aber die Finger zum Kreuz verschränkt und bewegte sie dauernd in Richtung der Soldaten. Santa Sofía von der Frömmigkeit konnte noch rasch José Arcadio Segundo warnen, der in Melchíades' Kammer schlief, doch dieser begriff, daß es zum Fliehen zu spät war. So schloß denn Santa Sofía von der Frömmigkeit wieder die Tür, und er zog Hemd und Schuhe an und setzte sich wartend auf die Pritsche. In diesem Augenblick durchstöberten sie die Goldschmiedewerkstatt. Nachdem der Offizier das Hängeschloß hatte aufbrechen lassen, ließ er seine Blendlaterne durch den Raum kreisen und sah den großen Arbeitstisch und den Glasschrank
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