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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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und die einzige ihm verbliebene Angst war die, man könne ihn lebend begraben. Das erzählte er Santa Sofía von der Frömmigkeit, die ihm sein tägliches Essen brachte, und sie versprach ihm, alles zu tun, um bis über ihre Kräfte hinaus am Leben zu bleiben, damit sie sich versichern könne, daß er nur tot begraben würde. Gewappnet gegen jede Furcht, widmete sich José Arcadio Segundo nun der Aufgabe, Melchíades' Pergamente m ehrmals durchzulesen, und fand desto größeren Gefallen daran, je weniger er davon begriff. Ans Regengeräusch gewöhnt, das während zwei Monaten zu einer neuen Form der Stille wurde, war das einzige, was seine Einsamkeit störte, Santa Sofías von der Frömmigkeit Kommen und Gehen. Daher bat er sie, doch das Essen aufs Fensterbrett zu stellen und wieder das Hängeschloß vor die Tür zu legen. Die übrige Familie vergaß ihn, auch Fernanda, der es nicht unangenehm war, ihn dort zu wissen, als sie erfuhr, daß die Militärs ihn gesehen hatten, ohne ihn zu erkennen. Nach sechs Monaten Zurückgezogenheit entfernte Aureliano Segundo angesichts des Abzugs der Soldaten aus Macondo das Hängeschloß, da er jemanden suchte, mit dem er sich unterhalten konnte, bis der Regen vorüber war. Sobald er die Tür öffnete, fühlte er sich vom Pestgestank der auf dem Fußboden stehenden und mehrmals benutzten Nachttöpfe zurückgestoßen. José Arcadio Segundo, aufgefressen von der Tanninbeize, gleichgültig gegen die von den widerwärtigen Dämpfen verdorbene Luft, las und las die unverständlichen Pergamente. Er schien von seraphischem Licht erleuchtet. Kaum hob er den Kopf, als er die Türe aufgehen sah, doch dem Bruder genügte sein Blick, um darin das unwiderrufliche Schicksal seines Urgroßvaters zu sehen. »Es waren mehr als dreitausend«, war alles, was José Arcadio Segundo sagte. »Nun bin ich sicher, daß es alle waren, die vor dem Bahnhof standen.«
     

 
     
     
     
     
     
    Es regnete vier Jahre, elf Monate und zwei Tage. Es gab Zeiten des Nieselregens, in denen jedermann seinen Sonntagsstaat anzog und eine Genesungsmiene aufsetzte, um das Aufhellen des Wetters zu feiern, doch bald gewöhnte man sich daran, die Regenpausen als Zeichen einer Verschlechterung anzusehen. Aus dem Himmel stürzten sintflutartige Regengüsse, und der Norden schickte etliche Orkane, die Dächer abdeckten, Wände eindrückten und die letzten Stauden der Pflanzungen mitsamt den Wurzeln ausrissen. So wie es während der Schlaflosigkeitsplage geschehen war, auf die Ursula sich in jenen Tagen besann, regte das Verhängnis als solches zu Maßnahmen gegen die Langeweile an. Aureliano Segundo war einer von denen, die alles taten, um sich nicht vom Müßiggang unterkriegen zu lassen. Er war an dem Abend, an dem Señor Brown das Unheil berufen hatte, wegen irgendeiner Beiläufigkeit nach Hause gegangen, und Fernanda wollte ihm mit einem halb umgestülpten Regenschirm aushelfen, den sie in einem Schrank gefunden hatte. »Ich brauche ihn nicht«, sagte er. »Ich bleibe hier, bis es aufhört.« Das war natürlich keine unumgängliche Verpflichtung, doch war er nahe daran, sie wörtlich zu erfüllen. Da sein Zeug in Petra Cotes' Haus aufbewahrt war, zog er das, was er am Leibe trug, alle drei Tage aus und wartete in Unterhosen, während es gewaschen wurde. Um sich nicht zu langweilen, widmete er sich der Aufgabe, die zahlreichen Schäden des Hauses auszubessern. So verstärkte er Angeln, ölte Schlösser, schraubte Türgriffe fest und brachte Fensterriegel in Ordnung. Mehrere Monate lang sah man ihn mit einem Werkzeugkasten, den die Zigeuner in José Arcadio Buendías Zeit vermutlich zurückgelassen hatten, im Haus umherschleichen, und niemand wußte, ob dank der unfreiwilligen Leibesübung, aus winterlicher Langeweile oder aus zwangsweiser Enthaltsamkeit, jedenfalls schrumpfte sein Wanst allmählich ein wie ein Weinschlauch, sein glückseliges Schildkrötengesicht nahm an Vollblütigkeit ab, und sein Kinn rutschte immer mehr zurück, bis der ganze Mann weniger dickleibig war und sich seine Schnürsenkel wieder selbst zubinden konnte. Als Fernanda sah, daß er Türknöpfe anbrachte und Uhren auseinandernahm, fragte sie sich, ob er nicht dem Laster des Aufbauens um des Abbauens willen verfallen war, wie Oberst Aureliano Buendía es mit den goldenen Fischchen getan hatte, Amaranta mit den Knöpfen und dem Leichenhemd, José Arcadio Segundo mit den Pergamenten und Ursula mit ihren Erinnerungen. Doch sie kam zu keinem Ergebnis.

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