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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Mauer zu stellen, sah Arcadio Rebeca mit nassem Haar und einem rosafarbenen Blumenkleid, wie sie das Haus weit öffnete. Er machte Anstrengungen, damit sie ihn erkenne. In der Tat blickte Rebeca zufällig zur Mauer herüber, blieb schreckgelähmt stehen und konnte nur ein knappes Abschiedszeichen winken. Arcadio antwortete auf gleiche Weise. In diesem Augenblick zielten die rauchgeschwärzten Gewehre auf ihn, und er hörte Buchstabe für Buchstabe Melchíades' gesungene Enzykliken und spürte die verlorenen Schritte der Jungfrau Santa Sofía von der Frömmigkeit im Klassenzimmer und fühlte in der Nase die gleiche eisige Härte, die ihm an der Nasenhöhle von Remedios' Leichnam aufgefallen war. Verdammt! dachte er noch, ich habe vergessen zu sagen, wenn es ein Mädchen wird, soll es Remedios heißen. Dann, wie zermalmt von einem zerfleischenden Tatzenhieb, fühlte er von neuem all den Schrecken, der ihn im Leben gepeinigt hatte. Der Hauptmann gab den Befehl zum Feuern. Arcadio fand kaum Zeit, die Brust zu blähen und den Kopf zu heben, ohne zu begreifen, woher die glühende Flüssigkeit floß, die ihm die Oberschenkel verbrannte.
    »Hahnreie!« schrie er. »Es lebe die liberale Partei!«
     

 
     
     
     
     
     
    Im Mai endete der Krieg. Zwei Wochen vor der durch einen hochtrabenden Aufruf bekanntgemachten Regierungserklärung, welche die erbarmungslose Bestrafung der Aufrührer verhieß, fiel Oberst Aureliano Buendía in Gefangenschaft, als er sich anschickte, in der Verkleidung eines eingeborenen Zauberkünstlers die westliche Grenze zu überschreiten. Von den einundzwanzig Männern, die ihm in den Krieg gefolgt waren, waren vierzehn im Kampf gefallen, sechs waren verwundet, und nur einer begleitete ihn im Augenblick der endgültigen Niederlage: Oberst Gerineldo Márquez. Die Nachricht von seiner Gefangennahme wurde in Macondo durch einen Sondererlaß bekanntgegeben. »Er lebt«, sagte Ursula zu ihrem Mann. »Bitten wir Gott, damit seine Feinde Milde walten lassen.« Nach drei Tagen des Wehklagens, eines Nachmittags, an dem sie eine Karamelspeise in der Küche schlug, hörte sie deutlich die Stimme ihres Sohnes nahe am Ohr. »Es war Aureliano«, schrie sie und lief zum Kastanienbaum, um die Nachricht ihrem Mann zu übermitteln. »Ich weiß nicht, wie das Wunder geschah, aber er lebt, und wir werden ihn sehr bald sehen.« Für sie stand es fest. Sie ließ die Zimmerböden scheuern und die Möbel umstellen. Eine Woche danach bestätigte ein unergründliches Gerücht, das keine Bekanntmachung verbreiten sollte, ihre Vorahnung auf dramatische Weise. Oberst Aureliano Buendía war zum Tode verurteilt worden, und das Urteil würde als abschreckendes Beispiel für die Bevölkerung in Macondo vollstreckt werden. Eines Montags gegen zehn Uhr zwanzig vormittags, als Amaranta gerade Aureliano José anzog, hörte sie fernes Getrappel und ein Trompetensignal, genau eine Sekunde bevor Ursula ins Zimmer stürzte mit dem Schrei: »Sie bringen ihn!« Der Trupp tat alles, die kochende Menge mit Kolbenstößen in Schach zu halten. Ursula und Amaranta bahnten sich mit Ellbogen bis zur Ecke einen Weg und sahen ihn. Er sah aus wie ein Landstreicher. Seine Kleider waren zerschlissen, Haupt- und Barthaar verfilzt, er selbst barfuß. Er ging, ohne den glühenden Staub zu fühlen, seine Hände waren auf dem Rücken mit einem Strick gefesselt, den ein berittener Offizier an seinem Sattelknauf befestigt hatte. Neben ihm, gleichfalls abgerissen und zerschlagen, wurde Oberst Gerineldo Márquez geführt. Sie wirkten nicht trostlos. Sie schienen eher von der Menge verwirrt, die der Truppe alle möglichen Schimpfworte zujohlte.
    »Mein Sohn!« schrie Ursula inmitten des Aufruhrs und versetzte dem Soldaten, der sie zurückhalten wollte, einen Hieb. Das Pferd des Offiziers scheute. Nun blieb Oberst Aureliano Buendía stehen, zitternd, wich den Armen seiner Mutter aus und blickte sie hart an.
    »Geh nach Hause, Mama«, sagte er. »Bitte die Behörden um Erlaubnis, mich im Kerker zu besuchen.«
    Er blickte Amaranta an, die sich unschlüssig zwei Schritte hinter Ursula hielt, und fragte lächelnd:
    »Was hast du an der Hand?« Amaranta hob die Hand mit der schwarzen Binde. »Eine Brandwunde«, sagte sie und zog Ursula beiseite, damit die Pferde sie nicht niedertrampelten. Wieder setzte sich der Trupp in Bewegung. Eine Sonderwache umringte die Gefangenen und brachte sie im Trab in die Kaserne.
    Gegen Abend besuchte Ursula Oberst Aureliano Buendía im

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