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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Gottes willen!« schrie sie. »Genug des Wahnsinns!«
    Die Soldaten legten auf beide an.
    »Lassen Sie den Mann los, Señora«, schrie einer von ihnen. »Sonst übernehmen wir keine Verantwortung!«
    Arcadio drängte Ursula gegen das Haus und ergab sich. Kurz darauf endete die Schießerei, und die Glocken begannen zu läuten. Der Widerstand war in weniger als einer halben Stunde gebrochen worden. Nicht einer von Arcadios Männern hatte den Überfall überlebt, doch bevor sie fielen, hatten dreihundert Soldaten des Gegners ins Gras beißen müssen. Das letzte Bollwerk war die Kaserne. Noch vor dem Angriff ließ der vermeintliche Oberst Gregorio Stevenson die Gefangenen frei und befahl seinen Männern, den Straßenkampf aufzunehmen. Die außerordentliche Beweglichkeit und Feuersicherheit, mit der er seine zwanzig Patronen durch die verschiedenen Fenster verschoß, erweckten den Eindruck, die Kaserne sei gut besetzt, so daß die Angreifer sie mit Geschützbeschuß in Stücke reißen mußten. Der die Operation befehligende Hauptmann wunderte sich, die Ruinen verlassen vorzufinden, bis auf einen einzigen Toten in Unterhosen, dessen entladenes Gewehr noch immer von der Faust seines vom Rumpf getrennten Armes umfaßt war. Im Nacken hing ihm eine dichte, von einem Aufsteckkamm zusammengehaltene Frauenperücke, um den Hals trug er ein Skapulier mit einem goldenen Fischchen daran. Als der Hauptmann ihn mit der Stiefelspitze umdrehte, um ihm ins Gesicht zu leuchten, rief er verdutzt: »Scheiße.« Andere Offiziere traten näher.
    »Seht nur, wo dieser Mann plötzlich auftaucht«, sagte der Hauptmann. »Es ist Gregorio Stevenson.«
    Bei Tagesanbruch, nach einem raschen Kriegsrat, wurde Arcadio vor der Friedhofsmauer erschossen. In den letzten Stunden seines Lebens begriff er nicht mehr, warum die Angst geschwunden war, die ihn seit seiner Kindheit gequält hatte. Gleichgültig und ohne die Absicht, seinen jüngst gezeigten Mut weiterhin an den Tag zu legen, hörte er die endlosen Beschuldigungen der Anklage an. Er dachte an Ursula, die wohl zu dieser Stunde bei José Arcadio Buendía unter der Kastanie Kaffee trank. Dachte an seine acht Monate alte Tochter, die noch keinen Namen hatte, und an das Kind, das im August geboren werden sollte. Dachte an Santa Sofía von der Frömmigkeit, die er am Vorabend verlassen hatte, wie sie einen Hirsch für das Samstagmittagessen einsalzte, und sehnte sich nach ihrem auf die Schultern herabfallenden Haar, nach ihren künstlich wirkenden Wimpern. Dachte ohne Gefühlsseligkeit an seine Leute, an eine strenge Abrechnung mit dem Leben und begann zu begreifen, wie sehr er die Menschen, die er am tiefsten gehaßt hatte, in Wahrheit liebte. Der Vorsitzende des Kriegsgerichts begann seine Abschlußansprache, bevor es Arcadio aufging, daß mittlerweile zwei Sunden vergangen waren. »Selbst wenn die erwiesenen Anschuldigungen nicht stichhaltig genug wären«, sagte der Vorsitzende, »hätte der Angeklagte für die unverantwortliche, verbrecherische Tollkühnheit, mit der er seine Untergebenen in einen sinnlosen Tod trieb, die Todesstrafe verdient.« In der halbzerstörten Schule, wo er zum erstenmal die Sicherheit der Macht erlebt, wenige Meter von der Kammer, in der er die Unsicherheit der Liebe kennengelernt hatte, fand Arcadio die Förmlichkeit des Todes lächerlich. In Wahrheit war ihm nicht der Tod wichtig, sondern das Leben, daher empfand er bei der Urteilsverkündung nicht etwa Angst, sondern Sehnsucht. Er blieb stumm, bis er nach seinem letzten Willen gefragt wurde.
    »Sagen Sie meiner Frau«, antwortete er vernehmlich, »sie soll das Kind Ursula nennen.« Er machte eine Pause und betonte: »Ursula wie die Großmutter. Und sagen Sie ihr auch, wenn das neue Kind ein Junge wird, soll es José Arcadio heißen, doch nicht nach dem Onkel, sondern nach dem Großvater.« Bevor er an die Wand gestellt wurde, bot Pater Nicanor ihm seinen Beistand an. »Ich habe nichts zu bereuen«, sagte Arcadio, und nachdem er eine Tasse schwarzen Kaffee getrunken hatte, stellte er sich dem Erschießungskommando. Der auf Blitzerschießungen spezialisierte Chef des Kommandos hatte einen Namen, der nicht ganz zufällig war: er hieß Hauptmann Roque Fleischer. Auf dem Weg zum Friedhof beobachtete Arcadio in dem beharrlichen Nieselregen, daß am Horizont ein strahlender Mittwoch aufging. Die Sehnsucht schwand mit dem Nebel und gab statt dessen einer gewaltigen Neugier Raum. Erst als man ihm befahl, sich mit dem Rücken zur

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