Hundert Jahre Einsamkeit
Gefängnis. Sie hatte die Erlaubnis durch Don Apolinar Moscote zu erwirken gesucht, doch dieser hatte vor der Allgewalt der Militärs jede Autorität verloren. Pater Nicanor lag mit einer Leberentzündung darnieder. Die Eltern von Oberst Gerineldo Márquez, der nicht zum Tode verurteilt war, versuchten ihn zu sehen und wurden mit Kolbenhieben zurückgewiesen. Angesichts der Unmöglichkeit, Mittelsmänner zu finden, und überzeugt, daß ihr Sohn im Morgengrauen erschossen werden würde, packte Ursula die Dinge ein, die sie mitnehmen wollte, und machte sich allein zur Kaserne auf. »Ich bin die Mutter von Oberst Aureliano Buendía.« So stellte sie sich vor.
Die Wachposten verwehrten ihr den Eintritt. »Ich komme trotzdem hinein«, warnte sie sie. »Wenn Sie also Feuerbefehl haben, können Sie gleich anfangen.« Sie schob den einen mit einem Puff beiseite und betrat das alte Klassenzimmer, wo ein Haufen nackter Soldaten ihre Waffen einfetteten. Ein errötender Offizier in Felduniform mit dicken Augengläsern und förmlichem Gebaren wies die Posten mit einem Wink hinaus.
»Ich bin die Mutter von Oberst Aureliano Buendía«, wiederholte Ursula.
»Sie wollen sagen«, berichtigte der Offizier mit liebenswürdigem Lächeln, »daß Sie die Mutter von Señor Aureliano Buendía sind.«
Ursula erkannte an seiner gesuchten Redeweise den trägen Tonfall der Leute von der Hochebene der Gecken.
»Wie Sie meinen, Señor «, räumte sie ein. »Solange Sie mich zu ihm führen.«
Höchstem Befehl zufolge durften die zum Tode Verurteilten keinen Besuch empfangen, doch der Offizier übernahm die Verantwortung, ihr ein Gespräch von fünfzehn Minuten zu gestatten. Ursula zeigte ihm, was ihr Paket enthielt: frische Unterwäsche, die Stiefel, die ihr Sohn an der Hochzeit getragen hatte, und die Karamelcreme, die sie seit dem Tag, als sie seine Rückkehr geahnt hatte, für ihn aufbewahrte. Sie fand Oberst Aureliano Buendía im Block-Zimmer mit ausgestreckten Armen auf einer Pritsche liegend, weil seine Achselhöhlen von Furunkeln übersät waren. Man hatte ihm erlaubt, sich zu rasieren. Der dichte Zwirbelschnurrbart unterstrich seine kantigen Wangen. Auf Ursula wirkte er blasser als bei seinem Weggang, etwas größer und noch einsamer als je. Er war über die häuslichen Geschehnisse im Bilde: über Pietro Crespis Selbstmord, über die erlittene Willkür und Arcadios Erschießung, über José Arcadio Buendías Unerschrockenheit unter der Kastanie. Er wußte, daß Amaranta ihre jungfräuliche Witwenschaft der Erziehung von Aureliano José widmete und daß dieser Zeichen von gesundem Menschenverstand gab und zugleich mit dem Sprechen auch Lesen und Schreiben lernte. Vom ersten Augenblick an, als Ursula den Raum betrat, fühlte sie sich von der Reife ihres Sohnes beengt, von seiner beherrschenden Aura, der seiner Haut entströmenden Autorität. Sie staunte, wie gut er Bescheid wußte. »Sie wissen doch, daß ich Seher bin«, scherzte er. Und fügte ernsthaft hinzu: »Als man mich heute früh herbrachte, hatte ich den Eindruck, all das bereits erlebt zu haben.« Tatsächlich war er, als die Menge ihn umjohlte, in Gedanken versunken gewesen, entsetzt darüber, wie gealtert das Dorf nach einem Jahr aussah. Das Blattwerk der Mandelbäume war zerfetzt, die blaugestrichenen Häuser, die bald darauf rot, dann wieder blau gestrichen worden waren, hatten schließlich eine unbestimmbare Färbung angenommen.
»Was hast du erwartet?« seufzte Ursula. »Die Zeit vergeht.«
»So ist es«, räumte Aureliano ein. »Aber doch nicht ganz so.«
Auf diese Weise brachte der so lange erwartete Besuch, für den beide ihre Fragen vorbereitet und sogar ihre Antworten vorbedacht hatten, wieder nur die altgewohnte Alltagsunterhaltung. Als der Wachposten das Ende des Gesprächs ankündigte, zog Aureliano unter der Pritschenmatte eine Rolle schweißgetränkter Papiere hervor. Es waren Verse. Die ihm von Remedios eingegebenen, die er beim Abmarsch mitgenommen hatte, außerdem die später in den gefahrvollen Kriegspausen niedergeschriebenen Verse. »Versprechen Sie mir, daß sie niemand zu sehen bekommt«, sagte er. »Zünden Sie damit heute abend den Ofen an.« Ursula versprach es und stand auf, um ihm einen Abschiedskuß zu geben.
»Ich bringe dir einen Revolver«, murmelte sie.
Oberst Aureliano Buendía stellte fest, daß der Posten nicht in Sicht war. »Er nützt mir nichts«, erwiderte er leise. »Aber lassen Sie ihn mir da für den Fall, daß man Sie beim
Weitere Kostenlose Bücher