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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Hinausgehen untersucht.« Ursula zog den Revolver aus ihrem Mieder und schob ihn unter die Matte der Pritsche. »Sagen Sie mir nicht Lebewohl«, schloß er mit betonter Ruhe. »Bitten Sie um nichts und entwürdigen Sie sich nicht. Nehmen Sie an, man hätte mich schon lange erschossen.« Ursula biß sich auf die Lippen, um nicht zu weinen.
    »Leg dir heiße Steine auf die Furunkel«, sagte sie.
    Sie machte kehrt und verließ die Kammer. Nachdenklich blieb Oberst Aureliano Buendía stehen, bis die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. Dann legte er sich wieder mit ausgestreckten Armen nieder. Von Jugend an, als er sich seiner Vorahnungen bewußt zu werden begann, dachte er, der Tod müsse sich mit einem bestimmten, unmißverständlichen, unwiderruflichen Zeichen ankündigen, doch nun fehlten nur wenige Stunden bis zu seinem Tod, und das Zeichen wollte sich nicht einstellen. Einmal war eine wunderschöne Frau in sein Lager bei Tucurmca gekommen und hatte die Wachposten gebeten, ihn sehen zu dürfen. Man hatte sie durchgelassen, weil man den Fanatismus einiger Mütter kannte, die ihre Töchter in die Schlafkammern der vornehmsten Krieger schickten, um, wie sie selber sagten, ihre Rasse zu veredeln. Oberst Aureliano Buendía beendete in jener Nacht gerade das Gedicht eines Mannes, der sich im Regen verirrt hat, als die junge Frau eintrat. Er kehrte ihr den Rücken, um das Blatt in seine verschließbare Versschublade zu legen. Da fühlte er es. Ergriff die Pistole in der Schublade, ohne den Kopf zu wenden.
    »Schießen Sie bitte nicht«, sagte er.
    Als er sich mit der Pistole im Anschlag umdrehte, hatte das Mädchen die seine gesenkt und wußte nicht, was es tun sollte. Auf ähnliche Weise hatte er vier von elf Anschlägen vereiteln können. Dagegen schlich einer, der nie gefangengenommen wurde, eines Nachts in die Revolutionskaserne von Manaure und erstach seinen engen Freund, Oberst Magnifico Visbai, dem er sein Feldbett geliehen hatte, um darin sein Fieber auszuschwitzen. Er, der wenige Meter entfernt in derselben Kammer in einer Hängematte schlief, merkte nichts. Seine Bemühungen, Vorahnungen systematisch zu erarbeiten, waren vergeblich. Sie kamen plötzlich in einem Sturmwind übernatürlicher Hellsicht wie eine unbedingte, augenblickliche, wiewohl ungreifbare Überzeugung. Gelegentlich waren sie so natürlich, daß er sie erst als Vorahnungen erkannte, wenn sie sich bewahrheiteten. Dann wieder waren sie deutlich und erfüllten sich nicht. Häufig waren sie nichts als gewöhnliche Anfälle von Aberglauben. Doch als er zum Tode verurteilt und um Bekanntgabe seines letzten Wunsches gebeten wurde, fand er nicht die geringste Schwierigkeit, die Vorahnung zu erkennen, die ihn antworten hieß:
    »Ich bitte darum, das Urteil in Macondo zu vollstrecken.«
    Der Vorsitzende des Gerichts wurde unmutig.
    »Keine Schlaubergereien, Buendía«, sagte er. »Das ist doch nur eine List, um Zeit zu gewinnen.«
    »Wenn Sie ihn nicht erfüllen wollen, liegt es bei Ihnen«, antwortete der Oberst. »Aber es ist mein letzter Wunsch.«
    Seither verließen ihn die Vorahnungen nicht. Am Tag, als Ursula ihn im Kerker besuchte, gelangte er nach reiflicher Überlegung zu dem Schluß, daß der Tod sich vielleicht diesmal nicht ankündigen werde, weil er nicht mehr vom Zufall abhing, sondern vom Willen seiner Henker. Wegen seiner schmerzenden Furunkel verbrachte er die Nacht in qualvollem Wachen. Kurz vor Tagesanbruch hörte er Schritte im Gang. Sie kommen, sagte er sich und dachte grundlos an José Arcadio Buendía, der in jenem Augenblick unter dem düsteren Morgengrauen der Kastanie an ihn dachte. Er spürte keine Angst, keine Sehnsucht, nur tiefinnerste Wut bei dem Gedanken, daß dieser künstliche Tod ihm nicht erlaubte, so viele unbeendete Dinge bis zu Ende kennenzulernen. Die Tür ging auf, und der Wachposten kam mit einer Tasse Kaffee herein. Am nächsten Tag zur selben Stunde schlug er sich nach wie vor mit dem Achselschmerz herum, und wieder geschah genau das gleiche. Am Donnerstag teilte er die Karamelcreme mit den Wachposten und zog das ihm zu enge frisch gewaschene Zeug und die Lackstiefel an. Am Freitag war er noch immer nicht erschossen worden.
    In Wirklichkeit wagte man nicht, das Urteil zu vollstrecken. Der Volksaufruhr ließ die Militärs befürchten, die Erschießung Oberst Aureliano Buendías würde schwerwiegende politische Folgen zeitigen, nicht nur in Macondo, sondern im ganzen Moorgebiet, so daß sie die Behörden der

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