Hundert Jahre Einsamkeit
Provinzhauptstadt befragten. Am Samstagabend, während man auf die Antwort wartete, ging Hauptmann Roque Fleischer mit anderen Offizieren zu Catarinos Butike. Nur eine Dirne, und auch nur, weil sie bedroht wurde, wagte, ihn in ihre Kammer zu lassen. »Man schläft nicht gerne mit einem Mann, von dem man weiß, daß er sterben wird«, gestand sie. »Niemand weiß, was geschehen wird, aber alle sagen, daß der Offizier, der Oberst Aureliano Buendía erschießt, daß alle Soldaten des Kommandos, einer nach dem anderen, früher oder später ermordet werden, und wenn sie sich am Ende der Welt verstecken.« Hauptmann Roque Fleischer berichtete das Gehörte den anderen Offizieren, und diese berichteten es ihren Vorgesetzten. Am Sonntag, wenngleich es niemand frei heraussagte, wenngleich kein militärischer Akt die gespannte Stille jener Tage getrübt hatte, wußte das ganze Dorf, daß die Offiziere bereit waren, die Verantwortung für die Vollstreckung mit allen Mitteln abzuschütteln. Mit der Montagspost traf der offizielle Befehl ein: das Urteil solle binnen vierundzwanzig Stunden vollstreckt werden. An jenem Abend warfen die Offiziere sieben mit ihren Namen beschriftete Zettel in eine Mütze, und Roque Fleischers ungnädiges Schicksal erkor ihn zum Gewinner. »Pech kennt keine Fehlschläge«, sagte er mit tiefer Verbitterung. »Ich bin als Hurensohn geboren worden und sterbe als Hurensohn.« Um fünf Uhr morgens ließ er das Erschießungskommando auslosen, im Innenhof antreten und weckte den Todeskandidaten mit dem Warnungsruf:
»Los, Buendía, unsere Stunde ist gekommen!«
»Das war es also«, erwiderte der Oberst. »Mir träumte, meine Furunkel seien aufgebrochen.«
Seit sie wußte, daß Aureliano erschossen werden würde, stand Rebeca Buendía um drei Uhr morgens auf und beobachtete durchs halbgeöffnete Fenster des dunklen Schlafzimmers die Friedhofsmauer, während das Bett, auf dem sie saß, von José Arcadios Schnarchen erbebte. Mit der gleichen versteckten Hartnäckigkeit, mit der sie einst Pietro Crespis Briefe erwartet hatte, wartete sie die ganze Woche. »Man wird ihn nicht hier erschießen«, sagte José Arcadio zu ihr. »Man wird ihn um Mitternacht in der Kaserne erschießen, damit niemand erfährt, aus wem das Erschießungskommando bestand, und wird ihn auch dort beerdigen.« Rebeca wartete. »Sie sind so blöd, daß sie ihn hier erschießen werden«, sagte sie. Sie war ihrer Sache so sicher, daß sie sich bereits überlegt hatte, wie sie die Türe öffnen würde, um ihm Lebewohl zu winken. »Man wird ihn«, beharrte José Arcadio, »nicht nur mit sechs verschreckten Soldaten, die wissen, daß die Leute zu allem fähig sind, durch die Straßen führen.« Ungerührt von der Logik ihres Mannes hielt Rebeca am Fenster aus.
»Wirst schon sehen, daß sie so blöd sind«, sagte sie.
Am Dienstag um fünf Uhr morgens hatte José Arcadio Kaffee getrunken und die Hunde losgemacht, als Rebeca das Fenster schloß und sich am Kopfende des Bettes festhielt, um nicht zu fallen. »Sie bringen ihn«, stöhnte sie. »Wie schön er ist!« José Arcadio lief zum Fenster und sah ihn, zitternd in der Helligkeit des Tagesanbruchs, in ein paar Hosen, die in seiner Jugend ihm gehört hatten. Er stand mit dem Rücken zur Mauer und stemmte die Hände in den Gürtel, weil die blühenden Knoten in den Achselhöhlen ihn daran hinderten, die Arme fallenzulassen. »Sich so ficken lassen!« brummte Oberst Aureliano Buendía. »Sich so ficken lassen, daß man von sechs Hinterladern umgelegt wird, ohne einen Finger rühren zu können!« Er wiederholte es mit einer Wut, die fast wie Inbrunst klang, und Hauptmann Roque Fleischer befiel Rührung, weil er glaubte, er bete. Als das Kommando auf ihn anlegte, hatte sich seine Wut zu einer zähen, bitteren Masse verdichtet, die seine Zunge lähmte und ihn zwang, die Augen zu schließen. Dann verschwand der Aluminiumglanz des Morgens, und er sah sich selbst als Kind in kurzen Hosen mit einem Band um den Hals, sah seinen Vater an einem wunderschönen Nachmittag, der ihn in ein Zelt führte. Er sah das Eis. Als er den Schrei hörte, glaubte er, es sei der Feuerbefehl. Er öffnete die Augen, mit eisdurchzuckter Neugierde darauf gefaßt, die weißglühende Bahn der Geschosse zu sehen, doch er sah Hauptmann Roque Fleischer mit hocherhobenen Armen und José Arcadio, der die Straße mit seiner schrecklichen schußbereiten Muskete überquerte.
»Schießen Sie nicht«, rief der Hauptmann José Arcadio
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