Hundert Jahre Einsamkeit
und wünschte, ihre für Pietro Crespi empfundene Jugendliebe würde für ihn aufleben. Am Samstag, dem Gefangenenbesuchstag, ging sie am Haus von Gerineldo Márquez' Eltern vorbei und holte sie zum Gefängnis ab. An einem dieser Samstage war Ursula erstaunt, sie in der Küche zu sehen, wo sie wartete, bis das Gebäck aus dem Ofen kam, um die besten Stücke auszusuchen und sie in ein für diesen Zweck gesticktes Mundtuch zu wickeln.
»Heirate ihn«, sagte sie. »Einen wie den findest du nicht noch mal.«
Amaranta heuchelte Widerwillen.
»Ich brauche Männern nicht nachzulaufen«, entgegnete sie. »Ich bringe Gerineldo die Kekse mit, weil der Gedanke mir weh tut, daß man ihn früher oder später erschießen wird.«
Das sagte sie obenhin, und doch gab die Regierung zu jener Zeit ihre Drohung bekannt, Oberst Gerineldo Márquez zu erschießen, sofern die aufrührerischen Streitkräfte sich weigerten, Riohacha zu übergeben. Die Besuche wurden gestrichen. Amaranta schloß sich weinend ein, bedrängt von einem Schuldgefühl, wie es sie gepeinigt hatte, als Remedios starb, als seien ihre unüberlegten Worte wiederum für einen Tod verantwortlich. Ihre Mutter tröstete sie. Versicherte ihr, Oberst Aureliano Buendía würde etwas zur Abwendung der Erschießung unternehmen, und versprach, ihr Gerineldo Márquez näherzubringen, sobald der Krieg beendet sei. Noch vor dem vorgesehenen Termin erfüllte sie ihr Versprechen. Als Gerineldo Márquez im Schmuck seiner neuen Würde eines Zivil- und Militäroberhaupts heimkehrte, empfing sie ihn wie einen Sohn, dachte sich die ausgefallensten Schmeicheleien aus, um ihn ans Haus zu fesseln, und bat ihn von ganzem Herzen, sich an sein Heiratsangebot zu erinnern. Ihr Flehen schien Erfolg zu haben. An den Tagen, wenn er zum Mittagessen kam, blieb Oberst Gerineldo Márquez nachmittags da und spielte mit Amaranta in der Begonienveranda >Dame<. Ursula brachte ihnen Milchkaffee und Kekse und versorgte die Kinder, damit sie nicht störten. Amaranta bemühte sich sichtlich, in ihrem Herzen die vergessene Asche ihrer Jugendliebe neu zu entfachen. Mit einer nachgerade unerträglichen Ungeduld wartete sie auf die Tage des gemeinsamen Mittagessens, auf die Spielnachmittage, und die Zeit verflog in der Gesellschaft dieses kriegerischen Trägers eines sehnsuchtsvollen Namens, dessen Finger beim Schieben der Steine unmerklich zitterten. Doch an dem Tag, als Oberst Gerineldo Márquez seinen Heiratsantrag wiederholte, wies sie ihn ab.
»Ich heirate niemanden«, sagte sie. »Und am wenigsten dich. Du magst Aureliano so gern, daß du mich nur heiraten willst, weil du ihn nicht heiraten kannst.«
Oberst Gerineldo Márquez war ein geduldiger Mann.
»Ich komme wieder«, sagte er. »Früher oder später werde ich dich überzeugen.« Und besuchte weiterhin das Haus. In ihrem Schlafzimmer eingeschlossen und geheime Tränen hinunterschluckend, verstopfte Amaranta sich die Ohren mit den Fingern, um nicht die Stimme ihres Bewerbers zu hören, der Ursula die jüngsten Kriegsnachrichten erzählte, und obgleich sie fast nach ihm verging, hatte sie doch die Kraft, ihr Zimmer nicht zu verlassen.
Oberst Aureliano Buendía verfügte damals über die Zeit, alle zwei Wochen einen eingehenden Bericht nach Macondo zu schicken. Doch nur einmal, fast acht Monate nach seinem Abmarsch, schrieb er an Ursula. Ein Sonderbeauftragter brachte einen versiegelten Umschlag ins Haus, der ein mit der gesuchten Schönschrift des Obersten bedecktes Blatt enthielt: »Kümmert Euch liebevoll um Papa, denn er stirbt bald.« Ursula war bestürzt. »Wenn Aureliano das sagt, weiß Aureliano Bescheid«, sagte sie. Und holte Hilfe, um José Arcadio Buendía in sein Schlafzimmer zu schaffen. Er war nicht nur so schwer wie immer, er hatte auch während seines langen Aufenthalts unter der Kastanie sogar die Fähigkeit entwickelt, sein Gewicht absichtlich so zu erhöhen, daß sieben Mann ihn nicht aufheben konnten und ihn auf dem Erdboden ins Bett schleppen mußten. Ein Geruch von jungen Pilzen, von Schimmel, von alter, anhaltender Unbehaustheit durchdrang die Luft des Schlafzimmers, als der greise, von Sonne und Regen gebeizte Koloß sie ein- und auszuatmen begann. Am nächsten Morgen lag er nicht in seinem Bett. Nachdem sie ihn überall gesucht hatte, fand Ursula ihn unter der Kastanie. Nun banden sie ihn im Bett fest. Trotz seiner ungebrochenen Kraft war José Arcadio Buendía außerstande, sich zu wehren. Alles war vergebens. Wenn er unter
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