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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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den Kastanienbaum zurückkehrte, so geschah es nicht aus Absicht, sondern aus Körpergewohnheit. Ursula betreute ihn, gab ihm zu essen, erzählte ihm Neues von Aureliano. In Wahrheit war der einzige Mensch, mit dem er seit langer Zeit Verbindung hatte, Prudencio Aguilar. Von der tiefen Hinfälligkeit des Todes fast ganz zerstäubt , besuchte Prudencio Aguilar ihn zweimal am Tag zu einem Zwiegespräch. Man sprach von Hähnen. Man versprach einander, eine Zucht hervorragender Tiere aufzuziehen, doch nicht um Siege zu genießen, deren sie nicht mehr bedurften, sondern um einen Zeitvertreib für die öden Todessonntage zu haben. Prudencio Aguilar wusch ihn, gab ihm zu essen und brachte ihm glänzende Nachrichten von einem Unbekannten namens Aureliano, der als Oberst im Kriege stand. War José Arcadio Buendía allein, tröstete er sich mit dem Traum von den endlosen Zimmern. Ihm träumte, er stehe aus dem Bett auf, öffne die Tür und trete in ein anderes gleiches Zimmer mit gleichem Bett und gußeisernem Kopfende, mit gleichem Rohrstuhl und gleichem Bildchen von der Jungfrau von den Heilmitteln an der hinteren Wand. Dieses Zimmer führte in ein anderes genau gleiches, dessen Tür in ein genau gleiches führte und anschließend in ein weiteres genau gleiches, bis ins Unendliche. Es machte ihm Spaß, wie durch eine Spiegelgalerie von Zimmer zu Zimmer zu wandeln, bis Prudencio Aguilar ihn an der Schulter berührte. Dann kehrte er zurück, von Zimmer zu Zimmer, erwachte rückwärts, durchlief den umgekehrten Weg und fand Prudencio Aguilar im Zimmer der Wirklichkeit. Eines Nachts indes, zwei Wochen nachdem man ihn in sein eigenes Bett verfrachtet hatte, berührte Prudencio Aguilar ihn an der Schulter in einem Verbindungszimmer, und dort blieb er für immer im Glauben, es sei das wirkliche Zimmer. Am nächsten Morgen wollte Ursula ihm das Frühstück bringen, als sie in der Veranda einen Mann näherkommen sah. Er war klein und untersetzt, trug einen schwarzen Anzug und einen gleichfalls schwarzen riesigen, bis über die schweigsamen Augen gezogenen Hut. Mein Gott, dachte Ursula. Ich hätte schwören mögen, es sei Melchíades. Es war Cataure, Visitacións Bruder, der auf der Flucht vor der Schlaflosigkeitskrankheit das Haus verlassen hatte und seither spurlos verschwunden war. Visitación fragte ihn, warum er zurückgekehrt sei, worauf er in seiner feierlichen Mundart antwortete: »Ich bin zur Beerdigung des Königs gekommen.« Nun betraten sie José Arcadio Buendías Zimmer, schüttelten diesen mit aller Kraft, schrien ihm ins Ohr, hielten ihm einen Spiegel vor die Nasenflügel, doch er war nicht aufzuwecken. Kurz darauf, als der Schreiner ihm für den Sarg Maß nahm, sahen sie, daß vor dem Fenster ein Rieselregen aus winziggelben Blüten fiel. Er fiel die ganze Nacht auf das Dorf in einem stillschweigenden Unwetter und bedeckte Dächer, versperrte Türen und erstickte die Tiere, die im Freien schliefen. So viele Blüten fielen vom Himmel, daß die Gassen am Morgen mit einer so dichten Schicht bedeckt waren, daß man sie mit Rechen und Schaufel wegräumen mußte, damit der Leichenzug sich hindurchschlängeln konnte.
     

 
     
     
     
     
     
    Im Korbschaukelstuhl sitzend, die unterbrochene Handarbeit im Schoß, betrachtete Amaranta Aureliano José, der mit schaumbedecktem Kinn die Rasierklinge schliff, um sich zum erstenmal zu rasieren. Dabei brachte er seine Pickel zum Bluten und schnitt sich in die Oberlippe, als er versuchte, sich einen blonden Flaumschnurrbart zu trimmen, und wenn zu guter Letzt alles blieb wie zuvor, hinterließ das mühsame Verfahren bei Amaranta doch den Eindruck, daß sie in diesem Augenblick zu altern begonnen habe.
    »Du bist wie Aureliano, als er so alt war wie du«, sagte sie. »Nun bist du ein Mann.«
    Er war es seit langem, seit dem schon fernen Tag, an dem Amaranta glaubte, er sei noch ein Kind, und sich vor ihm im Bad auszog, wie sie es immer getan hatte, wie sie es gewohnt war, seit Pilar Ternera ihn ihr gebracht hatte, damit sie ihn vollends aufziehe. Das erste Mal, als er sie sah, fiel ihm lediglich der tiefe Einschnitt zwischen ihren Brüsten auf. Er war damals noch so unschuldig, daß er nach dem Grund fragte, und Amaranta tat, als grabe sie die Brust mit den Fingerspitzen aus, und antwortete: »Man hat mir Scheiben und Scheiben und Scheiben herausgeschnitten.« Eine Zeitlang später, als sie sich von Pietro Crespis Selbstmord erholt hatte und wieder mit Aureliano José badete, blieb

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