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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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dessen Blick nicht mehr an der Vertiefung haften, vielmehr empfand er beim Anblick ihrer prachtvollen, mit maulbeerfarbenen Warzen gekrönten Brüste ungeahntes Schaudern. Dann musterte er sie weiter, entdeckte Handbreit um Handbreit das Wunder ihrer Intimität und fühlte, wie er bei der Betrachtung eine Gänsehaut bekam, so wie sie bei der Berührung mit dem Wasser eine Gänsehaut bekam. Seit seiner frühesten Kindheit hatte er die Gewohnheit, aus seiner Hängematte zu klettern, um in Amarantas Bett zu erwachen, weil die Berührung mit ihr seine Angst vor der Dunkelheit verscheuchte. Doch seit dem Tag, an dem er sich seiner Nacktheit bewußt wurde, war es nicht mehr die Angst vor dem Dunkel, die ihn unter ihr Mückennetz trieb, sondern der Wunsch, beim Erwachen Amarantas lauen Atem zu spüren. Einmal, an einem frühen Morgen, zu der Zeit, als sie Oberst Gerineldo Márquez zurückwies, erwachte Aureliano José mit dem Empfinden, daß ihm die Luft ausging. Er fühlte, wie Amarantas Finger wie warme begierige Würmer seinen Bauch absuchten. So drehte er sich zum Schein im Schlaf zu ihr um, um jede Schwierigkeit auszuschalten, und fühlte die Hand ohne schwarze Binde wie eine blinde Molluske zwischen die Algen seines Sehnens tauchen. Wenngleich sie so taten, als wüßten sie nicht, was sie beide wußten und wovon jeder von beiden wußte, daß der andere es wußte, waren sie von jener Nacht an durch eine unverbrüchliche Mitwisserschaft aneinandergekettet. Aureliano José konnte den Schlaf nicht finden, solange er nicht den Mitternachtswalzer der Wohnzimmeruhr gehört hatte, und die reife Jungfer, deren Haut zu trauern begann, kannte keinen Augenblick der Ruhe, solange sie nicht den jungen Schlafwandler, den sie aufgezogen hatte, unter ihr Moskitonetz schlüpfen fühlte, ohne daran zu denken, daß er ein Linderungsmittel für ihre Einsamkeit werden könnte. Nun schliefen sie nicht nur nackt zusammen und tauschten erschöpfende Liebkosungen aus, sondern sie jagten einander in einem unablässigen, unerlösten Reizzustand durch die Winkel des Hauses und schlossen sich zu den unmöglichsten Tageszeiten in den Schlafzimmern ein. Einmal wären sie um ein Haar von Ursula ertappt worden, die in die Speicherkammer kam, als sie sich gerade küssen wollten. »Du hast deine Tante sehr lieb, nicht?« fragte sie Aureliano José in aller Harmlosigkeit. Er bejahte. »Hast recht«, schloß Ursula, maß ihr Mehl fürs Brot ab und kehrte in die Küche zurück. Dieses Ereignis entriß Amaranta ihrem Taumel. Sie merkte, daß sie zu weit gegangen war, daß sie schon nicht mehr mit einem Kind Küssen spielte, sondern in eine herbstliche Leidenschaft hineinschlitterte, die gefährlich war und keine Zukunft hatte, und so erstickte sie sie im Keim. Aureliano José, der damals gerade seinen Wehrdienst beendete, machte sich die Lage klar und schlief fortan in der Kaserne. Samstags ging er mit den Soldaten in Catarinos Butike. Er tröstete sich für seine jäh gefühlte Einsamkeit, seine frühreife Jugend mit nach verdorrten Blumen riechenden Dirnen, die er im Dunkeln idealisierte und mit den wütenden Anstrengungen seiner Phantasie in Amaranta verwandelte.
    Kurz darauf begannen widersprüchliche Kriegsnachrichten einzutreffen. Während sogar die Regierung die Fortschritte der Aufrührer zugab, hatten Macondos Offiziere vertrauliche Mitteilungen über eine bevorstehende Friedensverhandlung erhalten. Anfang April gab sich ein Sonderbeauftragter beim Oberst Gerineldo Márquez zu erkennen. Er bestätigte, die Parteileiter hätten in der Tat Verbindung mit den Rebellenführern des Landesinnern aufgenommen und stünden am Vorabend eines Waffenstillstands im Austausch gegen drei Ministerien für die Liberalen, einer Minderheitsvertretung im Parlament und der allgemeinen Amnestie für alle Aufständischen, welche die Waffen gestreckt hatten. Der Emissär brachte einen hochgeheimen Befehl vom Oberst Aureliano Buendía mit, der im Gegensatz zu den Waffenstillstandsbedingungen stand. Oberst Gerineldo Márquez sollte fünf seiner besten Männer wählen und bereit sein, mit ihnen das Land zu verlassen. Der Befehl wurde stillschweigend ausgeführt. Eine Woche bevor die Vereinbarung veröffentlicht wurde, trafen inmitten eines Hagels widerspruchsvoller Gerüchte Oberst Aureliano Buendía und zehn Vertrauensoffiziere, darunter Oberst Roque Fleischer, in aller Stille nach Mitternacht in Macondo ein, lösten die Garnisonstruppe auf, begruben die Waffen und

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