Hundert Jahre Einsamkeit
vernichteten die Archive. Bei Tagesanbruch waren sie mit Oberst Gerineldo Márquez und seinen fünf Offizieren bereits aus dem Dorf verschwunden. Es war eine ebenso blitzschnelle wie geheime Operation, daß Ursula sie erst in letzter Minute bemerkte, als jemand an ihr Schlafzimmerfenster klopfte und flüsterte: »Wenn du Oberst Aureliano Buendía sehen willst, lauf sofort zur Tür.« Ursula sprang aus dem Bett, trat im Schlafgewand an die Haustür und konnte noch gerade das Getrappel der in einer Staubwolke aus dem Dorf galoppierenden Reiterschar hören. Erst am nächsten Tag erfuhr sie, daß Aureliano José mit seinem Vater abgezogen war.
Zehn Tage nachdem ein Gemeinschaftskommunique der Regierung und der Opposition das Ende des Krieges bekanntgab, trafen Nachrichten des ersten bewaffneten Aufstands unter Oberst Aureliano Buendía an der westlichen Grenze ein. Seine schwachen, schlechtbewaffneten Streitkräfte wurden in einer knappen halben Woche aufgerieben. Doch im Laufe desselben Jahres, während Liberale und Konservative sich um den Glauben des Landes an eine Versöhnung bemühten, zettelte er weitere sieben Aufstände an. Eines Nachts nahm er Riohacha von einem Schoner aus unter Beschuß, so daß die Garnison die vierzehn bekanntesten Liberalen der Bevölkerung aus ihren Betten zerrte und als Vergeltungsmaßnahme erschoß. Er besetzte über vierzehn Tage lang eine Grenzzollstation und richtete von dort aus einen allgemeinen Kriegsaufruf an die Nation. Eine weitere Expedition verirrte sich drei Monate lang im Urwald bei dem unsinnigen Versuch, mehr als eintausendfünfhundert Kilometer unerforschter Landstriche zu durchqueren, um den Krieg in die Vororte der Hauptstadt zu tragen. Einmal stand er weniger als zwanzig Kilometer von Macondo entfernt und wurde von den Regierungsspähtrupps gezwungen, ins Bergland nahe dem verzauberten Gebiet zu flüchten, in dem sein Vater viele Jahre vorher das Gerippe einer spanischen Galeone gefunden hatte.
Zu jener Zeit starb Visitación. Sie machte sich das Vergnügen, eines natürlichen Todes zu sterben, nachdem sie aus Angst vor der Schlaflosigkeit auf einen Thron verzichtet hatte; ihr letzter Wille war, man möge unter ihrem Bett ihren zwanzig Jahre lang ersparten Lohn hervorholen und ihn dem Obersten Aureliano Buendía schicken, damit er den Krieg weiterführen könne. Doch Ursula nahm sich nicht die Mühe, das Geld hervorzuangeln, weil in jenen Tagen das Gerücht umging, Oberst Aureliano Buendía sei bei einer Landung in der Nähe der Provinzhauptstadt gefallen. Die amtliche Meldung — die vierte in mehr als zwei Jahren — wurde fast sechs Monate lang für bare Münze gehalten, da man nichts mehr von ihm hörte. Plötzlich, als Ursula und Amaranta schon neue Trauer über die vorhergegangene gezogen hatten, traf eine ungewöhnliche Nachricht ein. Oberst Aureliano Buendía lebte, doch anscheinend hatte er es aufgegeben, die Regierung seines Landes zu reizen und sich dem triumphierenden Föderalismus anderer Republiken des Karibischen Meers angeschlossen. Immer ferner tauchte er unter verschiedenen Namen auf. Später erfuhr man, daß die ihn damals beflügelnde Idee die Vereinigung der föderalistischen Streitkräfte von Mittelamerika sei, um mit den konservativen Regierungsformen von Alaska bis Patagonien aufzuräumen. Die erste Nachricht, die Ursula mehrere Jahre nach seinem Fortgang unmittelbar von ihm erhielt, war ein zerknitterter, verwischter Brief, der aus Santiago de Cuba durch viele Hände zu ihr gelangte.
»Wir haben ihn für immer verloren«, rief Ursula beim Lesen aus. »Wenn er so weitermacht, wird er Weihnachten am Ende der Welt feiern.«
Der erste Mensch, dem sie den Brief zeigte, war der konservative General José Raquel Moncada, der seit Kriegsende Macondos Bürgermeister war. »Dieser Aureliano!« rief General Moncada aus. »Schade, daß er kein Konservativer ist.« Er bewunderte ihn ehrlich. Wie viele Zivilpersonen war José Raquel Moncada zur Verteidigung seiner Partei in den Krieg gezogen und auf dem Schlachtfeld zum General befördert worden, obgleich er keine militärische Begabung besaß. Wie viele seiner Parteifreunde war er im Gegenteil Antimilitarist. Er betrachtete Waffenträger als unverantwortliche Tagediebe, als Intriganten und Ehrgeizlinge, die zu nichts anderem taugten, als Zivilpersonen herauszufordern, um Unordnung zu säen. Intelligent, sympathisch, jähzornig, ein Tafelfreund und Liebhaber des Hahnenkampfes, war er zu einem bestimmten
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