Hundert Tage: Roman (German Edition)
nicht erklären, warum er seine verdammte Identitätskarte nicht endlich aufhob, stattdessen in seiner Jacke zu nesteln begann, nichts finden konnte, und Vince schwieg ihn an, ein schreckliches, schwarzes Schweigen, in das mein Gärtner seine Erklärungen rief, seine Herkunft, den Namen seines Vaters, das Dorf, aus dem er stammte. Er bekannte sich zur Republik, und Vince sagte nur, zeig mir deine Karte, alter Mann, und ich fand es beinahe anzüglich, wie dieser gestandene Mann vor dem grünen Jungen die Fassung verlor, aber ich antwortete nichts, auch nicht, als Théoneste nun mich zum Zeugen bestimmte, aber was konnte ich schon sagen, ob er ein Langer war oder ein Kurzer, das stand in der Identitätskarte, und die lag unter dem Stuhl, und er hatte mich nicht gefragt, und wer nicht fragt, der erhält keine Antwort, und ich sah damals nicht ein, warum ich ihn hätte retten sollen, einen Mörder, der Mördern zum Opfer fällt, wilde Tiere, die sich gegenseitig zerfleischen. Schuld. Es war mir egal, dass ich Schuld auf mich lud, das hatte ich ohnehin längst getan, doch bisher hatte ich nicht genau bestimmen können, worin sie gelegen hatte, in einer Komplizenschaft, in einem Stillschweigen, in einem Stehen auf der falschen Seite, mehr aber auch nicht, mehr war darüber kaum zu sagen, und irgendetwas brannte darauf, mir eine messbare Schuld zu geben, etwas, das ich tatsächlich bereuen konnte.
Doch ich habe mich geirrt, ich bereue es nicht, ich bereue nicht, dass sie den Mann hinausgeführt haben, er sich ohne Widerstand mitnehmen ließ. Die Männer verließen den Garten, als würden sie bloß eine Zigarette rauchen gehen, und es dauerte auch nicht länger, bis sie wieder zurückkamen, alleine, ohne Théoneste. Sein Tod schien mir die verdiente Strafe für seinen Mord an Erneste, und es ist wahrscheinlich, dass er im Flüchtlingslager ohnehin der Cholera erlegen wäre, und ich weiß, welchen Tod ich vorziehen würde: den schnellen mit der Panga, nicht den langsamen der Seuche, die einem Menschen aus allen seinen Löchern das Wasser zieht, aus dem wir bestehen und ohne das wir tot sind in weniger als drei Tagen. Warum hätte ich einen Mörder retten sollen? Weil ich gerecht sein wollte, wurde ich schuldig, und als ich mich schuldig machte, fühlte ich mich gerecht.
Vince und seine Kumpane nahmen mich mit, es musste alles schnell gehen, ich hatte gerade Zeit, meine Papiere einzupacken, das war alles. Ich hatte mich natürlich gefragt, ob ich nicht einfach bleiben sollte, warten, bis die Rebellen kommen würden. Ich war mir ziemlich sicher, dass deren Absichten besser waren, besser, von einem allgemein menschlichen Standpunkt aus gesehen. Sie wollten den Völkermord beenden, ihre Armee war disziplinierter, es war nicht damit zu rechnen, dass sie dasselbe anstellen würden wie die regulären Truppen und die Milizen, und im Grunde, von meinen Werten her, hätten sie auf meiner Seite stehen müssen.
Aber ich entschied mich trotzdem, mit den Mördern zu gehen, mit jenen, die tagtäglich die Gräber füllten, die Menschen in Kirchen zusammentrieben, Granaten in die Menge warfen und schließlich das Gotteshaus anzündeten. Ich schloss mich jenen an, die ihren Kindern Macheten überließen und sie auf andere Kinder hetzten, ich entschied mich für die Seite jener, die das größte Blutbad seit 1945 angerichtet hatten, nicht für die Rebellen, von denen ich nicht wusste, was ich persönlich von ihnen zu erwarten hatte. Ich hatte von ihren summarischen Urteilen gehört. Manchmal, wenn sie in Dörfer kamen, wo man alle Langen erschlagen hatte, brachten sie alle Überlebenden um, denn wer nicht tot war, war schuldig, wer noch lebte, musste getötet haben. Am Leben geblieben zu sein bewies die Schuld, und ich war noch am Leben. Die Milizen hingegen würden mir nichts tun, solange sie bei einigermaßen klarem Verstand waren, das heißt, nicht getrunken hatten, solange keiner etwas von mir wollte, Geld, und mich nicht für einen Belgier hielt, was überhaupt das Wichtigste war.
Ich zog deshalb ein rotes Hemd mit einem großen weißen Kreuz an, und das rettete mir zwar das Leben, brachte mir aber auf der Reise auch viele Unannehmlichkeiten. Kranke und Verzweifelte baten mich um Hilfe, darunter eine alte Frau ohne Zähne, die unerträglich nach Kot stank. Sie verlangte Essen und Medikamente, und es kostete mich einige Mühe, diese lästige Person abzuschütteln. Sie war nicht die Einzige, immer wieder musste ich erklären, dass dies
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