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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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hielt, diesem traurigen Schlachter einen Teil seiner Last zu tragen. Er sollte sich nicht verstoßen fühlen. So reichte ich Vince die Hand, obwohl mich schauderte, aber ich wollte ihn, diesen Massenmörder, nicht aus der menschlichen Gesellschaft verstoßen. Vielleicht spielte er nur ein Spiel, aber ich sah so etwas wie Dankbarkeit in seinen Augen. Meine Absolution würde ihm das Töten erleichtern, zu dem er gezwungen war. Jeder spielt in seinem Leben.
    Kaum waren sie weg, kaum war ich wieder alleine, schämte ich mich für meine Gedanken, für die freundschaftlichen Gefühle, die ein paar Schlucke Wasser mich für diese Mörder hatten fühlen lassen. Nicht nur meine Gedanken waren korrupt, selbst meine Gefühle waren käuflich, und mit Abscheu betrachtete ich die trüben Wasserflaschen, das graue, schwammige Brot, den Preis, zu dem ich mich verkauft hatte.
    Selbst mein Bussard schien mich zu meiden, blieb auf seinem Ast sitzen, sogar als ich ihm von der Wurst anbot, er beäugte mich scheel und stieß ein paar unzufriedene Laute aus. Ich bemerkte, wie kräftig er geworden war, beinahe wohlgenährt, und dies, obwohl ich ihm in der letzten Zeit kaum etwas gegeben hatte. Sein Flügel musste geheilt sein, und ich schreckte ihn auf, damit er aufflog und ich dies überprüfen konnte, aber er ließ sich bloß zu ein paar Hüpfern verleiten und löste sich nicht von seinem Stand.
    Etwas zwischen mir und dem Vogel war verändert, ich hatte die leise Ahnung, dass ich für ihn von keinem Nutzen mehr war, und ich hasste ihn für diese Treulosigkeit, diesen Verrat. Er war ein Bussard, natürlich, für ihn war ich bloß der Futterlieferant, so etwas wie Freundschaft konnte er nicht kennen, und trotzdem fühlte ich mich missbraucht und ausgenutzt. Ich bemerkte den Schimmer auf seinem Gefieder. Das stumpfe, fahle Puder, das ihn bedeckt hatte, war verschwunden, seine Decken glänzten wie damals, als ich ihn im Garten gefunden hatte. Er interessierte sich nicht für mich, blieb auf seinem Ast und stieß dann seinen Ruf aus. Er klang zufrieden, aufgeräumt, munter sogar, aber vor allem klang er
satt
. Sein Flügel musste verheilt sein, obwohl das unwahrscheinlich war, aber andernfalls hätte er nicht jagen können.
    In diesem Moment löste sich der Bussard von seinem Ast, verschwand hinter der Gartenmauer und tauchte einen kurzen Augenblick später wieder auf. Er hielt einen blutigen Fetzen in seinen Klauen, und es dauerte, bis ich begriff, woraus die Mahlzeit des Vogels bestand. Ich erkannte es natürlich in dem Augenblick, als ich nahe genug am Baum war. Aber mein Hirn sträubte sich, den Begriff zu diesem Stück Fleisch freizugeben. Es suchte einen Ausweg und ging alles Mögliche durch. Hühnerbein, Schafsknochen, doch nichts davon traf dieses längliche, schlaffe, mit einem Nagel bewehrte Stück Fleisch. Ich weiß nicht, wie lange ich den Vogel anstarrte, wahrscheinlich bloß einige Sekunden, dann kapitulierte mein Denkapparat und gab das Wort frei. Der Vogel fraß einen Finger, einen menschlichen Daumen, um genau zu sein, und im selben Moment begriff ich, womit er sich gesund gefüttert hatte.
    Ich bin in den Schuppen gegangen, habe die Machete genommen und ihm mit einem Hieb den Kopf abgeschlagen. Als ich ausholte, blickte er mich verdutzt an, er hatte nicht damit gerechnet. Der Kopf lag schon zu seinen Füßen, aber der Körper zuckte noch eine ganze Minute, schätzungsweise, ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Jedenfalls hatte es etwas Komisches, als wollte mir der Körper beweisen, dass er auch ohne Haupt ganz passabel leben könne. Ich hatte eine Niedergeschlagenheit befürchtet, meinerseits, meine ich, aber es war alles andere als das. Ich fühlte mich erfrischt, eine tiefe Befriedigung erfüllte mich, wie nach einem Arbeitstag, an dem man jede Minute genutzt hat.
    Gleich darauf legte ich mich aufs Ohr, und als ich das nächste Mal erwachte, glaubte ich zuerst, bloß einen Moment eingenickt zu sein, für eine Stunde, vielleicht zwei. Das Tageslicht war unverändert, ich schätze die Uhrzeit nicht später als fünf Uhr abends. Als ich vor das Haus trat und am Tatort das bereits getrocknete Blut und die schwarze Wolke schwirrender Fliegen sah, begriff ich, dass ich eine Nacht und einen Tag verschlafen hatte. Zuerst erschrak ich etwas über diesen Kontrollverlust, vielleicht war nicht nur ein Tag, vielleicht waren sogar zwei vergangen, oder noch mehr, eine ganze Woche, ein ganzer Monat gar. Nachdem die Schlaftrunkenheit

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