Hundsköpfe - Roman
hab’ sie heute abend nicht gesehen – und ein seltsames Verhalten, das beide Eltern beobachtet hatten, wieder und wieder diskutiert, bis die ersten Sonnenstrahlen ihre müden Gesichter trafen und alle Beweise in eine einzige Richtung zu weisen schienen: Kann man jemanden ohne Waffe töten? Kann man einen Mord begehen, indem man nichts tut? Kann ein elfjähriger Junge böse sein?
Als ich am nächsten Morgen von meinen Eltern ins Wohnzimmer gerufen wurde, wußte ich sofort, was passiert war. Der Lügner war über seine eigene Geschichte gestolpert. Und im Gesicht meiner Mutter sah ich einen Ausdruck von Fremdheit gegenüber einem Wesen, das überhaupt nichts mit ihr zu tun hatte.
Aber sie gingen nicht zur Polizei. Sie schickten mich nicht in ein Kinderheim oder ins Gefängnis, damit ich meine wohlverdiente Strafe bekäme. Vater holte nicht den Gürtel aus dem Schrank, und Mutters mythologische Wesen traten auch nicht aus der Wand und schnitten mir den Pillermann ab. Nein, sie fragten mich systematisch aus.
Hatte ich meine Tante gesehen? Hatte ich den Stuhl in den Spalt geklemmt? War ich gar nicht so glücklich über die Tante, wie alle in der Familie geglaubt hatten? Hatte sie Dinge getan, die mir nicht gefielen?
Nein, nein und nochmals nein.
Der Lügner stolperte über seine eigene Geschichte. Der Lügner weinte und sagte Entschuldigung und Ich war es nicht .
»Aber wieso entschuldigst du dich dann?«
Ich weiß nicht …
»Du mußt dich schon entscheiden!«
Daraufhin berieten die Geschworenen eine Woche. Onkel Knut verschob seine Reise nach Jamaika, Askild war bleich und betrunkener als normalerweise. Auch Bjørk war blaß und hatte die Strickjacke abgelegt, weil die Anfälle von Kälteempfindlichkeit, von denen sie seit der Diagnose in Thors Behandlungszimmer gequält wurde, an dem Tag verschwanden, an dem sie ihre Tochter mit leblosen Augen auf dem Kellerboden hatte liegen sehen. So sahen wir Großmutter auf einmal mit einem T-Shirt im Freien herumlaufen – das hatten wir bisher noch nie gesehen –, aber ihre Flucht aus dem Gefängnis der Strickjacke hatte nichts Befreiendes, und wenn sie nach Hause kam, saß Askild oft in einem Stuhl und starrte ausdruckslos in die Luft; es ist so still in unserem Haus , dachte sie, so fürchterlich leer und still …
Am Tag vor der Beerdigung klopfte es an die Tür des stillen Hauses am Tunøvej, und draußen auf der Treppe stand eine kleine Greisin. »Heilige Jungfrau, das arme Kind«, piepste sie, und erst da erkannte Askild, daß es sich um seine ehemals so übergewichtige Mutter handelte, die mit ihren sechs Koffern auf dem Treppenabsatz stand. Sie war runzlig wie ein alter Apfel, ihr Rücken war krumm, und ihre Augen verschwanden beinahe im Kopf. Und doch schien sie die Schwächen des Alters nicht als persönliche Brüskierung zu nehmen, denn sie nahm ihn in die Arme, daß ihm beinahe der Atem wegblieb, und machte sich sofort daran, die Fischfrikadellen zuzubereiten, die sie in ihrer Handtasche mitgebracht hatte.
»Die Leute stehlen doch wie die Zigeuner. Man kann heutzutage niemandem mehr trauen.«
Also stand Mutter Randi wieder zwischen den Fleischtöpfen und kochte wie in alten Zeiten für die Familie; sie stritt sich mit dem Papagei Kaj, während sie ihre Fischfrikadellen anrichtete, obwohl sie so taub war, daß sie die Beleidigungen des Vogels erraten mußte. Fünfundsiebzig Jahre hatte sie täglich mit Kochtöpfen zu tun gehabt, und so war es an ihr, bei der Beerdigung für die Verpflegung der bedrückten Trauergemeinde zu sorgen, die an einem verregneten Sommertag auf dem Friedhof der Friedenskirche stand und von der Tante Abschied nahm. Alle acht standen wir da, jeder mit seiner eigenen Version von schlechtem Gewissen, und als der Pastor die erste Erde auf den Sarg warf, fing Askild an zu weinen und konnte nicht wieder aufhören. Er weinte drei Tage, in denen Mutter Randi ihm Vitamingetränke servierte und Bjørk sich immer mehr Sorgen machte. Dann nahm er sich urplötzlich zusammen, richtete sich auf und legte das Gesicht in die gewohnten Falten: der bittere Zug um den Mund, der leicht boshafte Ausdruck in den dunklen Augen …
Als Großvater wieder ganz der alte war, reiste Knut zurück nach Jamaika, und alle erwarteten, auch Mutter Randi würde nun bald ihre Heimreise verkünden, bis sie eines Abends stammelnd gestand, daß sie ohne Rückfahrkarte nach Dänemark gekommen war. Nicht ohne Grund hatte sie ganze sechs Koffer dabeigehabt, und
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