Hundsköpfe - Roman
er auf andere Gedanken kam.
In dem kubistischen Haus hatten sich nicht weniger als zwölf Kinder und sechs Enkelkinder an dem großen Tisch im Wohnzimmer versammelt, und alle starrten den Dänen neugierig an, den Appelkopp direkt in die Küche zog, wo ich zu meinem großen Erstaunen die Konturen eines gigantischen Ungeheuers entdeckte, das Ida nie richtig hatte abwaschen können. Auch Appelkopps Versuche, es zu übermalen, waren nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Das Ungeheuer brach immer wieder durch, und dort – mitten im Zentrum dieses Ungeheuers, inmitten der verblassenden Konturen der Phantasie meines nahezu gleichaltrigen Vaters – stand eine Frau mit derart roten Haaren, daß es mir die Augen nadelte. »Was für ein Hänfling«, sagte sie, »schaun wir mal, daß du was auf die Rippen bekommst.«
»Und Farbe ins Gesicht«, sagte Appelkopp und kniff seiner Frau in den Hintern.
Der Dänenhänfling wurde ich genannt, und mir gefiel der Name gut. Das war etwas anderes als Lügenmaul, Hurensohn oder Schlüsselkind. Dieser Name forderte gleichsam Sanftmut und Fürsorge heraus, und während ich am Kaffeetisch im Wohnzimmer saß und mich in dieser Situation ziemlich beklommen fühlte, beschloß ich, nie wieder eine Lügengeschichte zu erzählen. Nie wieder Schimpfwörter hinter Leuten herzurufen und nie wieder jemanden mit Absicht Leid zuzufügen. Vater und Mutter wären überrascht und glücklich, wenn sie sich irgendwann entschieden, mich wieder nach Hause zu holen …
Ich mußte auch daran denken zu schreiben, damit sie mich daheim nicht vergaßen. Das wäre eine schöne Geschichte, wenn ich den Rest meiner Tage Onkel Appelkopp, wie er mich aufforderte, ihn zu nennen, zur Last fallen und umsonst an ihrem großen Eßtisch essen sollte, wo bereits unzählige Münder zu sättigen waren. Es war zu so vielen Kindern gekommen, weil Appelkopp so großes Vergnügen an Idas Hinterteil hatte und in der Gummiband- und nicht der Gummibranche arbeitete, wie er sagte.
»Und was ist mit dir?« fragte er zwei Tage später. »So ein hübscher kleiner Kerl wie du läßt die dänischen Mädchen doch bestimmt reihenweise in Ohnmacht fallen?«
Um ihn nicht zu enttäuschen, erzählte ich ihm, daß meine Kusine ziemlich scharf auf mich wäre. Es dauerte auch nicht lange, dann behauptete ich, ich hätte die Wahl gehabt, in den Sommerferien nach Norwegen oder mit Onkel Knut nach Jamaika zu fahren – aber ich hätte mich für Norwegen entschieden, weil Großmutter so viel darüber erzählt hatte, und einigen Enkelkindern erzählte ich auch, die dicke Tante wäre gestorben, weil ein Bankräuber sie erschossen hätte.
Das war ein netter Anfang für mein neues Leben. Ich war nicht länger als ein paar Tage des Landes verwiesen und begann bereits wieder zu lügen, und auch meine schnoddrigen Ausfälle ließen sich nicht so ohne weiteres im Zaum halten. Schon bald fing ich aufs neue an, infantile Provokationen von mir zu geben, wenn ich mich allein in der Gegend herumtrieb, und es dauerte nicht lange, bevor ich die Jungen aus dem Rhabarberviertel auf dem Hals hatte. »Mach, daß du in dein eigenes Land kommst, du Dänenhänfling!« schrien sie … Tja, die Nachbarn guckten scheel, die Postboten fluchten, und ohne es zu wollen, war ich nach wenigen Wochen drauf und dran, Onkel Appelkopps guten Ruf zu ruinieren.
Aber je mehr Nachbarn kamen, um sich bei meinem wohlmeinenden Onkel zu beschweren, je mehr Rhabarberburschen sich draußen auf der Straße versammelten, um Steine und Hundescheiße auf Stöckchen in Appelkopps Garten zu schmeißen, und je mehr Enkelkinder genug von mir hatten und erklärten, sie wollten nicht mehr mit ihrem dänischen Verwandten spielen, desto häufiger nahm mich Appelkopp auf Angeltouren mit. Es entging meiner Aufmerksamkeit nicht, daß er versuchte, mich wieder auf die rechte Bahn zu bringen, doch als Dank für all die Zeit, die er mit mir verbrachte, fing ich auch noch an, ihn nachts zu stören, so daß er seiner Frau nicht mehr ins Hinterteil kneifen konnte.
»Es ist das Ungeheuer«, murmelte Ida im Halbschlaf, »der Junge bekommt davon unheimliche Träume.«
»Es ist der Hundskopf«, murmelte ich. Nach dem Tod meiner dicken Tante änderte sich meine Angst vor der Dunkelheit. Früher war es eine eher diffuse Angst vor unheimlichen Wesen im Dunkeln gewesen, nun aber schien es, als hätte sie sich vor allem in eine Angst vor mir selbst und den Kräften, die sich in mir verbargen, verwandelt. Die
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