Hundsköpfe - Roman
erhöhten Segelohrs Verantwortungsbewußtsein und nährten in ihm die Vorstellung, daß er die Aufgabe hatte, für den Zusammenhalt der Familie zu sorgen – später drückte sich das in unzähligen Briefumschlägen mit knisternden dänischen Fünfhundertkronenscheinen aus, die er seinem Bruder auf die andere Seite des Atlantiks schickte. Als Segelohr kurz vor dem Umzug seine imponierende Münzsammlung zum ersten Mal seiner Mutter zeigte, hatte sie ihm einen bewundernden Blick geschenkt und erklärt, daß es mit einem solchen Schatz im Haus niemals an der Butter zum Brot fehlen würde. Bjørks Wille, das Spiel »Der große Bruder ist das Licht der Familie und weitaus zuverlässiger als sein Vater« zu spielen, spornte ihn an, von nun an noch verbissener am Skoltegrunnskai zu kämpfen. Und da er von dem geringen Tauschwert amerikanischer Münzen bei echten Münzsammlern wußte, tauschte er sie häufig mit anderen Jungen und bekam dafür alte und wesentlich wertvollere Münzen. In der Schule malte er mit Kreide einen Strich auf die Fliesen und forderte die anderen auf, mit Geldstücken zu werfen: wessen Münze dem Strich am nächsten lag, bekam den kompletten Einsatz. Und an den Bergener Kais hatten inzwischen kleinere Jungen angefangen, für ihn Krebse zu fischen.
Mit seinem Münzschatz unter dem Arm saß er ganz oben auf dem ersten der drei Umzugswagen, die hinaus zu dem neuen Haus fuhren, in dem sie nun für immer wohnen sollten. Abgesehen von ein paar Kleinigkeiten hatte Askild das Haus selbst entworfen und gebaut, und die kubistische Inspiration war nicht zu verleugnen. »Wieso ist die Speisekammer sechseckig und der Flur so schief?« wollte Bjørk wissen, als sie das Haus zum ersten Mal besichtigte. Andere Details blieben unkommentiert: Bestimmte Türen ließen sich nicht schließen, das Dach war undicht, die Isolierung mangelhaft, und die Holzböden waren so ungleichmäßig abgeschliffen, daß man sich Splitter in die Füße riß. Doch selbst die kubistischen Inspirationen konnten die Freude nicht trüben, und Bjørk war erleichtert, der dominanten Schwiegermutter und ihren gräßlichen Vitamingetränken entkommen zu sein.
Auch Segelohr war überwältigt. Er bekam sein eigenes Zimmer! Den ganzen Tag lief er glücklich im Haus herum, und gegen Abend war er in der Küche, um den Schrank unter dem Abwaschbecken zu besichtigen – er schloß die Schranktür hinter sich, griff automatisch zu einem Bleistiftstummel und begann, auf die Innenseite der Schranktür Ungeheuer zu zeichnen. In dem Dämmerzustand, in den er immer geriet, wenn er unter einer Spüle saß, hörte er Raffzahns Gerede von Schatzkisten voller Münzen, die willige Jungfrauen in Gesang ausbrechen ließen. Und obwohl er inzwischen mit Raffzahns Universum vertraut war, begriff er noch immer nicht wirklich, was es mit diesen Jungfrauen auf sich hatte. Die einzige, die er kannte und die auch nur einigermaßen seinen Vorstellungen von einer Jungfrau entsprach, war die Liederliche Linda, von der die anderen Jungen ständig redeten. Einmal hatte sie hinter ihm hergerufen – »He, Niels! Sie sagen, du hättest heute die Kugel geküßt!« –, aber Segelohr hatte zugesehen, daß er weiterkam. Er war sich sicher, daß sie irgend etwas Anzügliches mit ihrem Kommentar gemeint hatte, und schüttelte sich bei der Vorstellung, was sie in den Hinterhofschuppen alles mit den anderen Jungen machte. Er hatte eine Menge Geschichten gehört. Das absurdeste Gerücht war, daß sie deren Pillermänner in den Mund nahm. »Jetzt bin ich bald so reich, daß Linda mich anbetteln wird, ihn in den Mund nehmen zu dürfen«, hatte Spinnenbein Thorbjørn nach einer siegreichen Schlacht am Skoltegrunnskai gesagt, und obwohl Segelohr überzeugt war, daß es zu abseitig war, um wahr sein zu können, führte das innere Bild von der Liederlichen Linda mit einem Pillermann im Mund dennoch zu einem Sturm von Überlegungen. Pinkeln die ihr in den Mund? dachte er, bevor er den Gedanken verdrängte und weiter an seinen Ungeheuern zeichnete. Als er sie hinterher ansah – Bjørk rief ihn, der kleine Bruder war mal wieder weggelaufen –, begriff er nicht, wieso er sie gezeichnet hatte. Hastig krabbelte er heraus, mit einem etwas flauen Geschmack im Mund. »Knut!« rief er vor dem Haus. »Wo bist du?«
»Hier«, tönte es vom Fjäll über dem Haus. Als Segelohr oben ankam, zeigte Knut auf ein Schiff. Man konnte das Meer und einen großen Teil von Bergen von dort oben sehen.
»Siffe
Weitere Kostenlose Bücher