Hundsköpfe - Roman
erschrocken, und er starrte entgeistert auf Kramer, der weniger als einen Meter vor ihm stand und brüllte: »Hörst du nicht zu, Bursche? Wie ist es überhaupt möglich – entschuldige, daß ich das sage –, nicht zu hören, was gesagt wird, so wie du ausgestattet bist?«
»Äh, Herr Lehrer, ich weiß nicht«, antwortete Segelohr und sah schuldbewußt aus.
»Was sagst du? Hören Sie, meine Herren, er weiß es nicht!«
»Haha«, schallte es aus der Klasse, »wirklich komisch, Herr Kramer.«
»Gut, du Flegel«, tobte Kramer, während er mit festem Griff Segelohrs linkes Ohr packte und ihn zwang aufzustehen, »dürfen wir also erfahren, woran du so gedacht hast … Oder weißt du das möglicherweise auch nicht?«
»Nein, Herr Lehrer, Entschuldigung, ich weiß es nicht, Herr Kramer, au, au!«
Oberlehrer Kramer (zur Klasse gewandt): »Ein paar Vorschläge, kommt schon, Jungens: Woran haben unsere neunmalklugen Eselsohren gedacht?«
»Öh, an die Weltsituation?« lautete der erste Vorschlag von Niller mit den Sommersprossen. Auf den Gesichtern der übrigen Schüler zeichnete sich Erleichterung ab: Diesmal bin ich nicht dran!
»Entschuldigung, Herr Kramer, an ein gewisses Mädchen namens Linda?«
»Herr Kramer, vielleicht denkt Niels an seine bekloppte Schwester?«
»Nein, ihr Burschen«, triumphierte Kramer und riß so fest an Segelohrs Ohr, daß der Junge sich auf die Zehen stellen mußte, »falsch! Unser Musterschüler, das Wunderkind, das Hätschelkind des Seminaristen, unser Eselskopf denkt an überhaupt nichts . Leer, vollkommen leer im Kopf, diese Sorte endet in der Knochenmehlfabrik, meine Herren!«
»Ist das wahr? Herr Kramer, meinen Sie damit, daß Niels zu Knochenmehl verarbeitet wird?«
»Habe ich recht?« donnerte Kramer Segelohr an.
»Ja, Herr Lehrer«, heulte Segelohr und fügte hinzu, als der Oberlehrer ihn bat, es ihm nachzusprechen: »Ich bin leer im Kopf, aua, au, ich kann überhaupt nicht denken, au, aua, aus meinen Ohren werden sie Knochenmehl machen, aua, au, ich verdiene es, zu Knochenmehl zermahlen zu werden, ja, Herr Lehrer, ich bin ein Esel und ein Vieh!«
Zu diesem Zeitpunkt schwebten Segelohrs Ohren in höchster Gefahr, sich vom Kopf zu lösen, doch plötzlich schien sich mit dem Oberlehrer, der immer darauf bestand, im Physikraum zu unterrichten, eine seltsame Verwandlung zu vollziehen. Die Schüler wußten warum, das Lehrerkollegium wußte es allerdings nicht – sie sollten es jedoch herausfinden, und Oberlehrer Kramer wurde vom Stadtgericht zu einer Strafe von acht Tagessätzen zu fünfzehn Kronen verurteilt. Ein beinahe freundlicher Ausdruck glitt über Kramers Gesicht. Er ließ Segelohr los, tätschelte ihm wohlwollend den Kopf und setzte sich ans Katheder, wo er die Beine hochlegte und in seinem liebenswürdigsten Tonfall sagte: »Die Kugel, du Pavian.«
Ein Hauch der Erregung durchfuhr den Physiksaal, denn zum festen Inventar des Physikraumes, in dem Oberlehrer Kramer unbedingt seinen Unterricht abhalten wollte, gehörte neben dem Katheder die gefürchtete Elektrisiermaschine, die statische Elektrizität mit Hilfe einer kleinen Handkurbel erzeugte. Man kannte sie unter der Bezeichnung »die Kugel«. Den Schülern war wohlbekannt, daß die Elektrisiermaschine nicht zum Zweck der Aufklärung eingesetzt wurde, sondern vielmehr als Strafmaßnahme diente. Zunächst hatte man Schuhe und Strümpfe auszuziehen, dann mußte man sich auf die kalte Metallplatte stellen, die Kramer neben der Maschine auf den Boden genagelt hatte, um die ungezogenen Burschen besonders stromleitend zu machen, und danach war die Kurbel zu drehen, bis die Luft vor statischer Elektrizität knisterte und die Haare anfingen, zu Berge zu stehen.
»Das Schicksal war mir nicht gnädig«, wiederholte Segelohr Kramers Worte, während er wie ein Besessener kurbelte. »Das Schicksal hat mich mit einem Paar ordentlicher Eselsohren versehen, das Schicksal hat aber gleichzeitig meinen Kopf mit Rotz gefüllt, so daß ich nicht zuhören kann. Ich ende in der Knochenmehlfabrik – wenn sie mich dort überhaupt gebrauchen können.«
So kurbelte Segelohr ähnlich wie andere Jungen in Kramers Physiksaal, während sie vor der Klasse ihr trauriges Schicksal bekannten und ihre peinlichen Fehler schilderten, bis Kramer mit seinem Schlüsselbund dreimal auf den Tisch klopfte und befahl: »Küß die Kugel.« Dann hielt die ohrenbetäubendste Stille des gesamten norwegischen Schulwesens in diesem Physiksaal Einzug, denn
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