Hundsköpfe - Roman
fahren weit weg«, sagte Knut und hüpfte begeistert auf der Stelle, »Affel-koff weit weg.«
»Jep«, antwortete Segelohr und nahm ihn bei der Hand.
Seit Askild Knut zum ersten Mal auf die Werft mitgenommen hatte, damit er mal eines der Schiffe kurz vorm Stapellauf sah, war der Junge manisch besessen von Schiffen. Und von Mutter Randi, die an nächtlichen Alpträumen litt, in denen Appelkopps Schiff in wilden Stürmen unterging, wußte er auch einiges über Appelkopps gefahrvolle Fahrten auf den Weltmeeren.
»Affel-koff zurück!« sagte Knut, als sie den Hang hinuntergingen.
»Jep«, antwortete Segelohr und zog seinen kleinen Bruder zurück ins Haus, wo er von Bjørk ausgiebig gelobt wurde. »Was sollten wir nur ohne dich machen?« fragte sie und tätschelte dem stolzen Retter die Wange.
Ohne mich ginge hier doch alles bergab , dachte Segelohr und ging in sein Zimmer, um sich seine Münzsammlung anzusehen.
Abgesehen davon, daß es nun für Brüderchen Knut leichter wurde wegzulaufen, konnte niemand in der Familie irgend etwas Negatives an dem Umzug sehen; Mama und Papa schienen wieder ganz glücklich miteinander zu sein, und das erste Wochenende im neuen Haus verlief in einer geradezu phantastisch euphorischen Stimmung – bis zum Sonntagabend. Denn plötzlich wurde Segelohr klar – Wieso habe ich nicht schon vorher daran gedacht , jammerte er –, daß der Weg zur Weißen Schule und zu seinen Kameraden auf Skansen nun durch das Rhabarberviertel führte, wo jederzeit mit Keulen bewaffnete Rhabarberburschen darauf warteten, ein Opfer zu jagen.
Bergab , dachte Segelohr, es geht doch bergab .
Die ganze Nacht lag er wach und durchdachte die schlimmstmöglichen Situationen. Über ihm schwebte Thorbjørns unglückliches Gesicht, wie er klatschnaß zurückkam, nachdem er sich im eiskalten Wasser des Skansendamms gewaschen hatte. Er wußte zum Beispiel, daß eine eventuelle Entführung und Gefangennahme nicht mit einem Stück Hundescheiße in der Unterhose enden würde. Die Rhabarberburschen würden höchstwahrscheinlich versuchen, es ihm in die Ohren zu stopfen. Segelohr schwor sich selbst laut, daß ihm niemals mehr irgend jemand etwas in die Ohren stecken sollte.
Am nächsten Morgen frühstückte er mit der Familie und ging dann in sein Zimmer, um seinen Ranzen und die selbstgeschnitzte Keule zu holen. Er gab Bjørk einen Abschiedskuß und ging aus der Tür, fünfzig Meter später öffnete er den Ranzen, zog die Keule heraus und setzte zu einem Lauf an, der erst endete, als er schweißnaß vor der Weißen Schule stand. Den mehrere Kilometer langen Schulweg hatte er in einem erstaunlichen Tempo zurückgelegt: vorbei an einer Gruppe ungläubig staunender Rhabarberburschen, die seit langer Zeit keinen Jungen aus Skansen mehr in ihrer Gegend gesehen hatten, vorbei an Linda, die er in seiner Eile fast umgerannt hätte – »He!« rief sie. »Mußt du hoch, die Kugel küssen?« –, ja, ältere Damen wichen erschrocken vor dem keulenbewehrten Sprinter zurück, Milchmänner fluchten, Hunde bellten, und noch müde Fahrradfahrer flogen beinahe über den Lenker, als der elfjährige Segelohr rasend schnell die Straße überquerte. Selbst als er es in die sichere Zone auf der anderen Seite des Rhabarberviertels geschafft hatte, liefen die Adrenalinpumpen so hochtourig, daß er einfach nicht stehenbleiben konnte und erst vor der Weißen Schule mit dem Rücken an der hohen Mauer zusammensackte.
»Hör mal!« war Oberlehrer Kramers wohlbekannte Stimme zu vernehmen. »Du bist hier nicht im Krankenzimmer.«
»Entschuldigung, Herr Lehrer«, stöhnte Segelohr, eigentlich ziemlich zufrieden mit sich und seinem Lauf. Vielleicht geht es doch nicht bergab , dachte er.
Im Laufe der nächsten paar Wochen kam Segelohr in eine erstaunliche Form. Milchmänner, Fahrradfahrer und ältere Damen gewöhnten sich allmählich an seinen Auftritt, doch auch für andere wurde sein Anblick zu einer normalen Erscheinung, nämlich für die Rhabarberburschen, deren erstes Erstaunen sich relativ schnell legte. Manchmal kam ein Stück Hundescheiße an einem Stock hinter ihm hergeflogen, dann wieder kleine Steine, begleitet von Rufen: »He! Das ist der mit den Ohren. Hallo Segelohr! Hast du dich in der Stadt verlaufen?«
»Willst du dasselbe erleben wie dein Freund?«
»Raus aus unserem Viertel, du Flitzer!«
Schon bald begannen sie, sich hinter den Straßenecken auf die Lauer zu legen, in der Hoffnung, Segelohr ein Bein stellen zu können,
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