Hundsköpfe - Roman
wissen, wann man von einer Gruppe Rhabarberburschen mit Keulen gestellt wurde, und verlief man sich einmal – wie Spinnenbein Thorbjørn –, konnte man sicher sein, der gleichen Behandlung unterzogen zu werden wie er. Erst hatten sie den schreckensstarren Jungen quer durchs Rhabarberviertel getrieben, wobei sich eine immer größer werdende Schar hohnlachender Jungen um ihn versammelte, ihn dann in einen verlassenen Schuppen geführt, wo man ihn an einen Pfahl band und einer von den kleineren Rhabarberburschen losgeschickt wurde, um Hundescheiße zu suchen. Als der kleine Kerl mit einem aufgespießten Stück Hundescheiße zurückkam, hatte Thorbjørn sich vor Angst bereits in die Hose gepinkelt; sein Jammern war innerhalb und außerhalb des Viertels zu hören, aber als er die Hundescheiße sah, die gefährlich auf dem dünnen Stock vibrierte, gab er plötzlich keinen Ton mehr von sich. Ganz still war er, als der Hundehaufen in zwei Teile geteilt wurde. Als sie ihm die eine Hälfte in seine Unterhose stopften. Als die andere Hälfte auf die Außenseite seines Hosenbodens geschmiert wurde. Und ganz still war er auch, als sie ihn anschließend durchs ganze Rhabarberviertel schleiften und er demütigende Zurufe über sich ergehen lassen mußte.
Als sie ihn endlich freiließen, wagte Thorbjørn nicht, nach Hause zu gehen, nein, er lief den Skansendamm hoch, um seine Hose in dem eiskalten Wasser zu waschen, und am folgenden Tag waren im Stadtteil Skansen alle der einhelligen Ansicht, daß die Rhabarberburschen zu weit gegangen waren.
Segelohr gefiel die Entwicklung, die die Dinge nahmen, überhaupt nicht. Nur Askild spazierte unbekümmert durch das Rhabarberviertel, wenn er auf seinen Bauplatz wollte, um den harten Bergener Untergrund mit Dynamit zu bearbeiten.
In der städtischen Schule, deren Gebäude weiß gestrichen waren und die daher die Weiße Schule genannt wurde, lernte Segelohr, daß weder sein Ruf als Nußknacker noch seine Verwandtschaft mit Appelkopp ihn vor den Demütigungen des Schulwesens schützte. Und so erscheint nun der Oberlehrer Kramer mit einem donnernden Auftritt – mit rotem Spitzbart, Glatze und ein paar einzelnen weißen Haaren hinter den Ohren, ein Auge blau, das andere braun, von den Jungen Regenbogen oder Palette genannt.
In der letzten Reihe des Klassenzimmers der Weißen Schule saß Spinnenbein Thorbjørn, der nach seiner unfreiwilligen Rundreise durch das Rhabarberviertel nervöse Zuckungen unter dem linken Auge hatte, in der vorletzten Reihe saß Niller mit den Sommersprossen, Fleckenfratze, das erste Opfer in der Kunst des Nüsseknackens, nun aber ein verläßlicher Soldat in den Schlachten am Skoltegrunnskai. Segelohr saß zu diesem Zeitpunkt in der ersten Reihe, was vor allem an der Begeisterung des neuangestellten Geschichtslehrers Magnus für die historischen Kenntnisse des Jungen lag, seiner Vertrautheit mit der russischen Zarenfamilie, Wilhelm von Preußen, Friedrich August von Sachsen und der nordischen Königsfolge. Dieses Faktenwissen hatte den Geschichtslehrer zunächst folgern lassen, daß der Junge ein wanderndes Lexikon wäre, daher hatte er ihn umgehend in die erste Reihe gesetzt. Dann begriff der Geschichtslehrer allmählich, daß die historischen Kenntnisse des Jungen sich in hohem Maß auf Mißverständnissen und phantasievollen Hinzudichtungen gründeten. So bestand er hartnäckig darauf, daß Christian III ., der Norwegen im 16. Jahrhundert zu einer dänischen Provinz gemacht hatte, den Münzhändler Ibsen erst neulich in der Allikegate besucht haben sollte, und daß George Washington der größte Kindskopf der Geschichte gewesen sei. Dennoch hatte der Geschichtslehrer eine gewisse Nachsicht mit der kindlichen Phantasie, und daher saß und langweilte Segelohr sich nun in der ersten Reihe. Sein einziger Ausblick war die schwarze Tafel, und häufig fiel er in einen Dämmerschlaf, in dem sich Raffzahns heisere Stimme mit der des Münzhändlers Ibsen vermischte. Verzauberte Münzen glitzerten, Krebse, groß und feist, wurden aus der Tiefe gezogen … und mitten in diesem Dämmerzustand tauchte der Mathematiklehrer Kramer mit Schaum vor dem Mund auf. Bereits mehrfach hatte der Oberlehrer seinen Namen aufgerufen: »Niels, würdest du bitte den anderen wiederholen, was ich gerade gesagt habe? Niels, jemand zu Hause?« Doch erst, als Kramer mit der ganzen Kraft seiner Stimme Niels! brüllte, erwachte Segelohr aus seinem Dämmerschlaf.
»Oh!« entfuhr es ihm
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