Hundsköpfe - Roman
denke ich allerdings, daß der Auslöser eher die dicke Tante gewesen ist, obwohl ich noch immer nicht weiß, ob es daran lag, was ich ihr angetan habe, oder daran, was sie mir antat. Jedenfalls haben Leute, die es gut mit mir meinten, immer wieder versucht, mir Mädchen aufzuschwatzen.
Eigentlich möchte ich es Stinne heimzahlen, aber ich nehme mich zusammen und verspreche, bald einmal auszugehen und mich zu amüsieren – es gibt nur noch etwas, was ich hinter mich bringen muß.
»Und Großmutter«, sagt Stinne und fragt nach meinem Besuch im Pflegeheim am Vormittag, »kam die frische Luft heute an? Der übliche Zirkus?«
Ich nicke. Appelkopps wöchentliche Konservendose war sehnsüchtig erwartet worden: »Ihm geht es bestimmt wunderbar in dem alten Haus«, seufzte Bjørk, als sie die frische Luft durch das Loch in der Dose eingeatmet hatte. Ich brachte es nicht übers Herz, sie von ihrer fixen Idee abzubringen. Ich brachte es nicht über die Lippen, daß nicht Segelohr in ihrem alten Haus im Neubaugebiet wohnte. Daß nicht er so besorgt um die Gesundheit seiner Mutter war und die frische Luft aus Bergen schickte. Die ganze Geschichte von Segelohrs zweitem Verschwinden war der härteste Schlag von allen, und ich habe Angst, daß eine eventuelle Erinnerung daran die letzte sein könnte. Daher ließ ich sie in dieser schwebenden Ungewißheit, die das einzige Privileg des hohen Alters ist, und ermunterte sie, weiter ihr Garn über Bergen zu spinnen.
Bjørk überquerte den Skagerrak lediglich einmal und setzte nie wieder einen Fuß auf norwegischen Boden. Als ich am Vormittag an ihrem Bett saß, zog ich ein Photo aus der Tasche, das die Familie kurz vor der Jahreswende 1960 im steifen Gegenwind auf dem Deck einer Fähre zeigt. Im Zentrum des Bildes steht Askild mit Bjørk im Arm. Es ist nicht zu übersehen, daß kurz nach der Entdeckung in Thors Sprechzimmer noch immer eine gewisse Formalität ihre Umgangsformen bestimmt. Neben Bjørk steht Segelohr in einem Anzug, der ihm zu klein ist; an seiner Stirn sind ein paar Pickel zu erahnen, die er mit einer heruntergezogenen Mütze zu kaschieren sucht, und ganz an der Peripherie des Bildes wirft Knut einen unruhigen Blick über die Wellen, während Anne Katrine am Hosenbein ihres Vater hängt. Auf den ersten Blick scheint es das Bild einer ganz normalen Familie zu sein, doch der Eingeweihte wird sehr rasch auf ein eigenartiges Phänomen aufmerksam. Eine genauere Betrachtung des dreizehnjährigen Segelohrs würde nämlich ergeben, daß – während sein Körper sich zu entwickeln begann, während Pickel blühten und Haare an unsichtbaren Stellen sprossen – die Ohren überhaupt nicht wuchsen . Sie blieben, wie sie waren, und erschienen kleiner mit der Zeit, und so begann eine Periode, die ich Anpassung und Harmonisierung nennen möchte.
Die Überfahrt nach Dänemark wurde die bei weitem längste Reise, die Bjørk je unternommen hatte, nicht zuletzt dank des hohen Seegangs, der sie, kurz nachdem der unbekannte Photograph die Familie sich selbst überlassen hatte, auf eine der Fährtoiletten zwang, während der seefestere Askild mit einem einfältigen Lächeln auf den Lippen herumlief. Trotz der Strapazen der Seefahrt hatte Bjørk immer davon geträumt, die Reise noch einmal anzutreten – nur für kurze Ferien, einen kleinen Ausflug nach Bergen, um die Familie zu besuchen; ihr ganzes restliches Leben lang sprach sie davon. In den ersten langen Jahren hielt Askild allerdings nicht viel von dieser Idee, und als er auf seine alten Tage endlich die Rede darauf brachte, war die Reise wohl für beide nicht mehr zu bewältigen. Nach seinem siebzigsten Geburtstag kam Askild eines Tages mit zwei Fährbilletts nach Hause, die er sorgfältig auf dem Tisch glattstrich und lange unter einer Lupe studierte; es schien, als hätte sich die Fahrt in eine Traumreise verwandelt, die allen Prinzipien der Vernunft widersprach. Mehrere Monate sprachen sie über die Vorbereitungen, doch über ihren Plänen schwebte immer etwas Unwirkliches, und schließlich ging Großvater noch einmal ins Reisebüro und bekam das Geld zurück. Wir alle erwarteten sie bei unserem nächsten Besuch in einer deprimierten Verfassung, aber sie waren durchaus nicht über die Schwäche des Alters bedrückt, im Gegenteil, sie schienen beide erleichtert.
»Nein«, sagte Askild. »Was hat Norwegen eigentlich für mich getan? Ich will in Dänemark sterben.«
Askilds Integration in das neue Land war allerdings auch
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