Hundsköpfe - Roman
völlig problemfrei verlaufen. Besonders die liberale Alkoholkultur sagte ihm zu. Vorbei war’s mit den illegalen Schankstätten. Jetzt konnte er erhobenen Hauptes trinken, was er auch ausgiebig tat, ausgenommen zu den Zeiten, in denen ein wachsendes Problem mit einem Magengeschwür ihn zu wochenlanger Trockenheit zwang und er die gesamte häusliche Routine durcheinanderbrachte. Aber zurück zu dem Photo Anno 1960.
»Diese Ohren«, lachte Bjørk, »mit diesen Ohren hatten wir nichts als Probleme.«
Zum ersten Mal bemerkte sie die ausgewogeneren Proportionen zwischen Ohren und Körper in ihrem zweiten Sommer in Ålborg. Sie stand am Küchenfenster und sah Segelohr zu, der draußen auf der Straße mit dem Fahrrad eine wahnsinnige Spirale fuhr, als sie feststellte, daß die Ohren einen völlig normalen Eindruck machten.
Segelohr wußte es längst, aber just in dieser Sekunde war er vor allem damit beschäftigt, Fahrrad zu fahren – bis er die Herrschaft über das Rad verlor und ebenso wie Appelkopp viele Jahre zuvor in den Wagen des Milchmanns schoß, der still an der Straße stand. In diesem Moment war eine leise Stimme zu hören: »He, du Trottel, nicht nur, daß du so komisch redest, jetzt kannst du noch nicht mal richtig Fahrrad fahren.«
Daraufhin verschwand eine lichte Gestalt, die auffallend an das blonde Mädchen aus den verhexten Wäldern Nordlands erinnerte, die Straße hinunter; und außer dem pochenden Schmerz im Knie verspürte Segelohr einen noch größeren Schmerz im Bereich des Zwerchfells, der sich bald schon zu Übelkeit ausweitete. Das vierzehnjährige Mädchen, das auf den Namen Marianne Qvist hörte, hatte keine Ahnung, daß sie eine Vergangenheit im Traumwald ihres Bewunderers hatte. Sie wußte auch nicht, daß sie von nun an eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Familie Eriksson spielen würde und mehr oder weniger unfreiwillig der Familie den größten Schlag von vielen zufügen sollte. Nein, in ihrer vierzehnjährigen Welt war der radfahrende Bergaffe aus Norwegen nur eine exotische Abwechslung in ihrem Ålborger Alltag, und mit einer Mischung aus Neugierde und Verachtung betrachtete sie den verrückten Radfahrer, der ihr um die Hacken kurvte. Allerdings war er nicht so aufdringlich wie Appelkopp, denn die anderthalb Jahre in Dänemark hatten ihn gelehrt, sich zurückzuhalten.
Am ersten Schultag – an einem stürmischen Januartag 1960– mußte er die Kunst des Nüsseknackens wiederauferstehen lassen. Ein Bergaffe aus Norwegen brauchte gewisse Talente auf einem dänischen Schulhof, denen es zu verdanken war, daß ihm ein Ausflug ins Kellerpissoir erspart blieb, der eigentlich für neue Schüler obligatorisch war. Als er sich jedoch im selben Frühjahr beim örtlichen Boxverein anmeldete, um seine Fertigkeiten weiterzuentwickeln, wurde er ziemlich schnell wieder rausgeschmissen, da er zu unfeinen Methoden griff und seine Gegner zwischen die Beine trat. Und zu seiner großen Enttäuschung hatte er auch feststellen müssen, daß es sich bei den Krebsen im Limfjord nur um blasse Abbilder der Riesen aus der norwegischen See handelte. Niemand wollte diese unterentwickelten Dinger kaufen, die er aus dem trüben Fjord fischte.
Im Schein der Straßenlaterne, die dem neuen Haus am Nyboværftsvej am nächsten stand, hatte er eines Nachts, kurz nach dem Umzug, schlaflos am Fenster gesessen. Irgendwann einmal hatte Bjørk ihm versprochen, daß sie für immer in dem kubistischen Haus wohnen würden; nun war Bergen Lichtjahre entfernt, und er vermißte Appelkopps Wildheit, die mürrische Herzlichkeit des Münzhändlers Ibsen und die Jungen aus Skansen. So dasitzend, halb in Bergen und zum ersten Mal dabei, sich in den Nebeln der Melancholie zu verirren, bemerkte er, daß in einem Fenster des Nachbarhauses das Licht eingeschaltet wurde. Der Nachbar war Schmied und arbeitete wie Askild auf der Werft. Segelohr blinzelte schläfrig mit den Augen und erstarrte, als er sah, wie eine Mädchengestalt aus ihrem Bett aufstand und aus dem Zimmer trippelte. Sie hatte die Gardinen nicht vorgezogen, und der Anblick des Traummädchens aus den verhexten Wäldern traf ihn mit einer Wucht, die mit einemmal all seinen Qualen einen Sinn gab. Daß das blonde Mädchen der Traumwälder die Gestalt der zwölfjährigen, nur mit einem Nachthemd bekleideten Tochter des Schmieds angenommen hatte und daß sie in den nächsten Tagen seine heimlichen Blicke offensichtlich nicht erwiderte, reichte nicht, um ihn
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