Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
er sich beinahe hundertprozentig verlassen konnte. Wahrscheinlich hatte er zu lange an der Isar geschlafen. Bei dieser Hitze waren die längst durch. Wenn er bis zum Nachmittag nicht wenigstens zwei Steine verkaufen würde, dann müsste er Plan B durchziehen. Das war nicht besonders häufig der Fall. Dann würde er’s im Biergarten am Wiener Platz versuchen. Da ging immer was. War aber nicht schön, im Biergarten Steine zu verkaufen. Die waren ziemlich streng. Das letzte Mal hatten ihn die Schankkellner rausgeworfen. Aber bisher hatte niemand was von Platzverbot gesagt, das nicht. Solange sie das nicht sagten, konnte er es immer wieder versuchen. War ja nicht so oft. Und es gab ja noch andere Kneipen in Haidhausen, wo Leute draußen saßen. Er brauchte nur fünf, sechs Euro, mehr nicht. Zwei hatte er noch. Seine Wasserflaschen konnte er im öffentlichen Klo am Max-Weber-Platz auffüllen. Alles in allem standen die Dinge nicht schlecht. Jedenfalls gemessen an früheren Zeiten. Nur diese grölenden Kerle an der Isar und die rote und schwarze Farbe auf seinem Anhänger und an den Tunnelwänden waren nicht gut. Vielleicht war auch nicht gut, dass er dieser Frau ein blaues Auge verpasst hatte. Im Nachhinein fragte er sich, warum sie nicht um Hilfe geschrien hatte. Ihn hatte sie angeschrien. Vielleicht würde sie ja zum Kaffee kommen. Dann könnte er sie fragen. Aber er glaubte nicht wirklich daran. Wäre nur ganz nett. Weil er sich nicht mehr daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal mit einer Frau Kaffee getrunken hatte.
Weil er sich an Frauen überhaupt nur ganz schlecht erinnern konnte. Nicht an Frauen im Allgemeinen, kamen ja genügend vorbei. Und mit den Hundefrauen redete er ja. Er meinte andere Frauen, solche, mit denen er was zu tun gehabt hatte. Richtig zu tun gehabt.
DIE SOGENANNTE LAGEBESPRECHUNG mit Kriminaloberrat Becker fand im kleinen Konferenzsaal statt. Als Laura den Raum betrat, erkannte sie mit einem Blick, dass praktisch alle versammelt waren: Vertreter der Dezernate, Bundesgrenzschutz, Bereitschaftspolizei, Verkehrspolizei, Kripo, und irgendwo dazwischen entdeckte sie ihren Kollegen Peter Baumann. Man hatte Ventilatoren aufgestellt, doch sie schienen die dicke Luft nur hin- und herzuschieben wie einen greifbaren Block Materie. Die Mischung von Gerüchen war überwältigend. Laura machte instinktiv einen Schritt rückwärts, weil sie kaum Luft bekam. Es roch säuerlich, nach Schweiß, zu starkem Kaffee, Männerparfüm und ausgedrückten Zigaretten, die zu lange in Aschenbechern gelegen hatten. Und das trotz des Rauchverbots im gesamten Präsidium. Eine Kollegin vom Vermisstendezernat winkte und hielt sich mit der anderen Hand die Nase zu.
Laura sah auf die Uhr. Vier Minuten nach zwei. Sie blieb in der Nähe der Tür stehen, obwohl Kommissar Baumann ihr bedeutete, dass er einen Stuhl frei gehalten hatte. Niemals würde sie sich freiwillig in die Mitte dieses überfüllten Raums begeben, an all diesen schwitzenden Männern und Frauen vorbei. Sie lehnte sich an die Wand, griff nach einer Informationsbroschüre zum Thema «Richtiges Verhalten am Tatort», die in einem Wandregal steckte, und fächelte sich damit Luft zu.
Sieben Minuten nach zwei betrat Kriminaloberrat Becker das Konferenzzimmer, stutzte kurz, schien ebenfalls die Luft anzuhalten, bahnte sich dann aber entschlossen einen Weg zum Kopfende des längsten Tisches, wo es offenbar auch eine Art Podest gab, denn auf einmal überragte er alle anderen. Er hustete. Sein Kopf war heute noch intensiver gerötet als sonst, und er trug – ganz gegen seine sonstige Gewohnheit – keine Krawatte und kein Jackett, sondern ein kurzärmeliges Hemd mit offenem Kragen. Nach einem bedeutungsvollen Blick in die Runde räusperte er sich, hustete erneut und begann endlich zu sprechen.
«Kollegen!» Er nickte. «Kolleginnen! Es tut mir leid, dass ich Sie bei dieser Affenhitze hier zusammenpferchen muss. Deshalb mache ich es so kurz wie möglich. Eigentlich wollte der Polizeipräsident hier stehen und mit Ihnen sprechen. Er wurde allerdings zu einer wichtigen Konferenz ins BKA gerufen. Also, um zur Sache zu kommen: Mit der ungewöhnlichen Hitzewelle kommt es vermehrt auch zu ungewöhnlichen Zwischenfällen. Ich werde deshalb zusammenfassen, was die meisten von Ihnen ohnehin schon wissen.
Erstens: Besondere Aufmerksamkeit ist gegenüber alten Menschen geboten, deren Sterblichkeitsrate in den letzten Tagen enorm zugenommen hat. Bei häuslichen Todesfällen
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