Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
aufgeschreckt. Und aufgeschreckte Polizisten sind auch nicht gerade ungefährlich!»
«Du meinst nicht zufällig mich?», fragte Peter Baumann, der nur den letzten Satz gehört hatte.
«Nein, ich meine nicht zufällig dich, sondern uns alle. Hallo. Wie hat Beckers Verkündigung auf dich gewirkt?»
Der junge Kommissar hob kurz den rechten Arm und betrachtete betrübt den riesigen Schweißfleck, der sich auf seinem fliederfarbenen Hemd ausgebreitet hatte.
«Es ist ein Skandal, dass dieses Haus noch keine Klimaanlage hat», murmelte er und stellte sich vor Claudias Ventilator.
«Ist das alles?»
«Bekomme ich auch ein Glas Wasser? Nein, das ist nicht alles. Mir gefällt die Sache nicht. Kommt mir vor, als würde er uns auf die Anwendung von Notstandsgesetzen einstimmen. Obwohl … Bei mir sind letzte Nacht irgendwelche seltsamen Horden vorbeigezogen. Ich hatte Spätdienst und kam erst um zwei nach Hause. Da hab ich sie gesehen. Die haben nichts Schlimmes gemacht, sind nur mitten auf der Straße gegangen, mindestens dreißig, vierzig Leute. Es war unheimlich, weil sie ganz leise waren. Wenn ich nicht so müde gewesen wäre, hätt ich sie länger beobachtet. Ich wollte nur noch ins Bett. Aber dann konnte ich nicht schlafen.»
«Wer kann schon schlafen?», entgegnete Claudia.
«Ich nicht!», antwortete der junge Kriminaltechniker Andreas Havel, der in diesem Augenblick das Dezernatsbüro betrat. «Aber das müssen wir auch nicht mehr, weil wir in Zukunft Tag und Nacht arbeiten werden. Wenn wir nämlich jeden Todesfall von Leuten über siebzig genau untersuchen sollen, dann ist es aus mit schlafen! Wisst ihr, wie viele alte Leute in den letzten zwei Wochen gestorben sind? Ich werde es euch sagen: genau dreiundvierzig! Zum Glück sind die fast alle schon unter der Erde. Aber jetzt geht’s los, das sage ich euch!»
«Sei froh, dass du kein Gerichtsmediziner bist!», grinste Baumann und nahm den Pappbecher, den Laura für ihn mit Wasser gefüllt hatte. «Deren Job möchte ich bei dieser Hitze nicht für viel Geld erledigen! Übrigens, Laura: Woher hast du eigentlich dein wunderschönes Veilchen?»
Laura betrachtete die leere Flasche und stellte sie in den Träger neben dem Kühlschrank. «Ich bin gestern Abend gegen eine offene Schranktür gelaufen. Aber abgesehen davon bin ich dafür, dass wir die Situation in aller Ruhe angehen und schlicht abwarten, was auf uns zukommt. Soweit ich sehe, ist im Augenblick gar nichts los. Also mache ich weiter mit dem Fall Dobler.»
Baumann verdrehte die Augen, und Havel grinste.
«Dann also bis später, ich muss noch ein paar Akten durchsehen.»
«He! Was hat dir denn der alte Mayer erzählt? Und warum versteckst du dich hinter einer Sonnenbrille?» Peter Baumann verschränkte die Arme und machte einen großen Schritt in die Mitte des Zimmers.
«Darüber muss ich erst nachdenken!» Laura drehte sich um und ging, schloss leise die Tür hinter sich, schloss ebenso leise die Tür ihres eigenen Büros, drehte den Schlüssel herum und ließ sich in ihren großen schwarzen Sessel fallen. Erleichtert schlüpfte sie aus ihren Schuhen. Sie schob ihre Bluse hoch, um die Kühle des Leders auf der Haut zu spüren, und nahm endlich die dunkle Brille ab. Sie war dankbar, dass ihr Zimmer nach Norden lag und der Sonne deshalb kaum ausgesetzt war. Sorgsam legte sie ihre Beine auf den Schreibtisch und schloss die Augen.
Wieder ergriff diese warme dunkle Müdigkeit von ihr Besitz und mit ihr dieser angenehme halbbewusste Zustand. Sie fragte sich, wer wohl auf die Idee mit den Morden an alten Leuten gekommen war, die sich aufgrund der Hitzewelle mit natürlichen Todesursachen kaschieren ließen. Irgendwer im LKA, im BKA oder vielleicht Becker selbst? Irgendein Kollege, der daran dachte, seine Schwiegermutter umzubringen oder den Erbonkel, und diese Wünsche auf andere projizierte? Natürlich war es denkbar, dass die Gelegenheit Mörder machte. Den Menschen war alles zuzutrauen. Sie dämmerte kurz weg, schreckte hoch, weil ihr Stuhl nach hinten rollte und ihr rechtes Bein vom Schreibtisch rutschte. Hatte sie geträumt? Sie konnte sich nicht erinnern.
Warum hatte Karl-Otto Mayer ihr die Geschichte von Esther und Lea Maron erzählt? Um ihr zu erklären, warum Doblers Tod gerechtfertigt war und ad acta gelegt werden konnte? Was hatte er bei der ersten Vernehmung gesagt? «Da hat jemand lang nach ihm gesucht.»
Wer hat gesucht? Jemand, der sehr gelitten hat? Oder jemand, der gut hassen konnte? Ein
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