Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
muss im Zweifelsfall eine Obduktion vorgenommen werden. Hinter angeblich hitzebedingten Todesfällen können sich auch Tötungsdelikte verbergen oder unterlassene Hilfeleistung, Vernachlässigung und so weiter. Das gilt insbesondere für Altenheime!
Zweitens: Gewalttätige Auseinandersetzungen in Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch haben ebenfalls ein beunruhigendes Ausmaß angenommen. Der Stadtrat zieht in Erwägung, die Sperrstunde für Gaststätten und Bars vorübergehend auf elf Uhr vorzuziehen.
Drittens: Es wurden Zusammenrottungen von verschiedenen Gruppen beobachtet, die spätnachts durch die Stadt ziehen. Noch ist es dabei nur vereinzelt zu Zwischenfällen gekommen. So wurden einige Schaufensterscheiben eingeschlagen, Telefonzellen zerstört und so weiter. Im Zusammenhang mit den letzten beiden Punkten werden wir nachts verstärkt Streifen einsetzen.
Viertens: Es gibt immer mehr aggressive Überschreitungen des Fahrverbots. Einige Kollegen konnten sich nur durch einen Sprung zur Seite retten, weil Autofahrer die Aufforderung anzuhalten missachtet haben. Es ist also besondere Vorsicht geboten.
Das wäre zunächst alles. Allerdings könnten wir noch eine Terrorwarnung dazubekommen, eine Vorwarnung gibt es bereits. Es tut mir leid, Kolleginnen und Kollegen. Ich habe mir weder das Wetter ausgedacht, noch die ziemlich katastrophalen Auswirkungen. Ach, was ich vergessen habe: Ab sofort gilt eine unbegrenzte Urlaubssperre. Das wär’s. Gibt es Fragen?»
Im Raum herrschte absolute Stille, bis sich ein schnauzbärtiger Kollege zu Wort meldete: «Was sagt denn der Wetterbericht, Herr Kriminaloberrat?»
Plötzlich lachten alle, geradezu hysterisch. Laura hatte das Gefühl, als würde die Luft durch dieses Gelächter noch dicker, wie zähflüssige Gelatine, die über den Köpfen waberte und sich langsam senkte. Sie stieß sich von der Wand ab und entkam durch die Tür, ehe die andern nach draußen drängten. Ihr war ein bisschen übel, und sie hatte die seltsame Vorstellung, als folgte ihr die Gelatine durch den Flur bis ins Büro ihres Dezernats.
«Geht’s dir gut?», fragte Claudia und schaute Laura prüfend an.
«Es ist besondere Vorsicht geboten und außerdem Urlaubssperre!», erwiderte Laura, ging am Schreibtisch der Sekretärin vorbei zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Mineralwasser heraus.
«Was?»
«Du hast es doch gehört!» Laura goss Mineralwasser in einen Pappbecher und trank.
«Du hast nicht zufällig einen Hitzschlag?»
«Nein, nur ein blaues Auge. Und ich mache auch keine Witze, Claudia. Was Becker verkündet hat, klang wie eine apokalyptische Vision: nächtliche Zusammenrottungen, Mordserien an Alten unter dem Deckmantel der Hitzewelle, Alkoholexzesse, Gewaltausbrüche und als Zugabe eine mögliche Terrorwarnung. Mehr kann man sich eigentlich nicht wünschen, oder?»
«Klingt eher nach L.A. oder einem amerikanischen Katastrophenfilm.»
«Ja, genau. Fehlt nur noch die Vogelgrippe, verseuchtes Trinkwasser, Tornados …»
«Noch was?»
«Im Moment nicht.»
Claudia rückte den Ventilator zurecht, der auf ihrem Schreibtisch stand. «Dein blaues Auge sieht wüst aus. Tut’s weh?»
Laura schüttelte den Kopf.
«Darf ich fragen, wo du es dir geholt hast?»
«Schranktür im Dunkeln.»
Claudia runzelte die Stirn. «Liegt wahrscheinlich auch an der Hitze! Ich lauf dauernd halb bescheuert durch die Gegend. Also, ich sag dir mal eins: Vor einem Monat fand ich den Sommer noch richtig gut. Aber inzwischen macht mir dieses Wetter Angst. Ich meine, ich fühle mich richtig bedroht. Meine Kleine hatte letzte Woche schweren Durchfall. Wir schlafen schlecht, haben Kopfschmerzen, sind dauernd gereizt, leiden unter der schlechten Luft.»
«Das geht uns allen so, Claudia, und was meinst du, wie die Menschen in Afrika sich fühlen! Die haben dauernd solches Wetter.» Laura hatte keine Lust zu jammern. Sie füllte ihren Pappbecher zum zweiten Mal und prüfte, ob ihre Sonnenbrille richtig saß.
«Aber wir sind nicht in Afrika. Das hier ist Deutschland. Die Klimakatastrophe kommt nicht erst in fünfzig Jahren, sie ist schon da, Laura.»
«Natürlich. Aber das hier ist nur ein Vorgeschmack. Demnächst gibt es ein wahnsinniges Gewitter, und dann ist der Sommer vorbei. Weißt du, was wirklich gefährlich ist? Wenn alle Panik bekommen! Dann nämlich reagieren die Menschen irrational. Was Becker als Horrorszenario verkündet hat, das sind bisher nur Einzelfälle. Aber jetzt sind natürlich alle
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