Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
alter Mensch oder ein junger?
Wieder ließ Laura die Geschichte der Marons an sich vorüberziehen. Was wäre, wenn sie das Konzentrationslager überlebt hätten? Oder wenn die kleine Lea überlebt hätte? Warum hatte der alte Herr so heftig auf Lauras Bemerkung reagiert, dass Lea möglicherweise nicht tot sei?
Jemand klopfte an Lauras Tür. Sehr laut und unangenehm.
«Laura?»
«Ja!»
«Die erste ältere Leiche. Kommst du?» Es war Baumanns Stimme.
«Nein, übernimm du. Ich muss nachdenken.»
«Ich will aber nicht. Ich hasse ältere Leichen!» «Bitte geh! Die nächste übernehme ich!»
«Du bist unfair!»
«Ich bin nicht unfair, ich denke nach! Und jetzt geh endlich!»
Er ging. Jedenfalls sagte er nichts mehr. Er wird sich rächen, dachte Laura, ließ ihren Sessel leicht nach hinten kippen und schloss wieder die Augen. Es bedeutete einen Wahnsinnsaufwand herauszufinden, ob im Juni eine Lea Maron in einem Münchner Hotel gewohnt hatte oder ob sie am Flughafen angekommen war. Falls es so war, hatte sie möglicherweise einen falschen Namen benutzt oder in all den Jahren geheiratet und hieß ohnehin anders.
Das ist alles zu viel in dieser Hitze, dachte Laura. Außerdem haben wir gar nicht genügend Leute dafür. Allerdings könnte ich Claudia bitten, zumindest die Passagierlisten abzuklären und vielleicht die Hotels und Pensionen in Schwabing. Das wäre wenigstens ein Anfang.
Langsam bewegte Laura ihren Kopf von links nach rechts und wieder zurück, um ihren verspannten Nacken zu lockern. Was wäre, wenn Lea Maron tatsächlich lebte und sich zur fraglichen Zeit in München aufgehalten hätte? Wie sollte sie, Laura, sich verhalten? Einen internationalen Haftbefehl ausstellen lassen? Die Ermittlungen einstellen und alles vergessen? Lea Maron auf eigene Faust suchen und mit ihr reden?
Ich muss mit jemand darüber sprechen, dachte Laura und zuckte zusammen, als ihr Telefon zu dudeln begann.
«Es tut mir leid», sagte Claudia. «Wir haben schon wieder eine ältere Leiche, und Baumann ist auf dem Weg zur ersten.»
«Ja, und? Sind wir neuerdings das Dezernat für ältere Leichen?» Laura nahm ihre Beine vom Schreibtisch.
«Vielleicht!», lachte Claudia aus dem Telefon. «Könnte sich um Beckers Rache an deinen interessanten italienischen Fällen handeln.»
Zwanzig Minuten später stand Laura neben einer völlig aufgelösten jungen Frau. Mit Tränen in den Augen verlangte sie, bei ihrem Vater Totenwache halten zu dürfen, und wies auf zwei junge Polizeibeamte, die sich sehr breitbeinig vor einer Tür postiert hatten.
«Ich habe den Notarzt gerufen!», rief sie verzweifelt. «Und der hat die Polizei verständigt, und die hat die Tür versiegelt. Warum darf ich nicht zu meinem Vater? Was macht die Kripo hier? Was soll denn dieser ganze Wahnsinn?»
«Das ist ganz einfach, meine Dame», entgegnete einer der jungen Polizisten. «Jemand könnte dem alten Herrn ein Kissen aufs Gesicht gedrückt haben. Oder ihm zu viele Medikamente gegeben haben. Zum Beispiel. Ich habe Ihnen das schon zweimal erklärt.»
«Was?» Die junge Frau wich zurück und hielt sich eine Hand vor den Mund.
«Das», sagte Laura ruhig zu dem Kollegen, «war keine besonders zartfühlende Bemerkung.» Sie wandte sich wieder an die Tochter des Verstorbenen. «Es tut mir wirklich leid, und ich entschuldige mich für diese schreckliche Prozedur. Können wir uns vielleicht irgendwo in Ruhe unterhalten?»
«In Ruhe? Sie haben Nerven!» Die Frau brach in lautes Schluchzen aus, öffnete aber gleichzeitig eine Tür und ging voraus in eine geräumige Küche mit Wintergarten. Angriffslustig drehte sie sich um und hielt sich mit beiden Händen an einer Stuhllehne fest.
«Was geht hier vor? Erklären Sie’s mir! Ich verstehe das nicht! Mein Vater ist gestorben, und ich werde behandelt wie eine Mörderin.»
«Sie haben ja völlig recht. Es ist grausam. Sie konnten ja nicht wissen, dass es die Pflicht jedes Notarztes ist, bei einem häuslichen Todesfall die Polizei einzuschalten. Wenn Sie Ihren Hausarzt gerufen hätten, dann wäre das vermutlich nicht passiert. Es sei denn, der Hausarzt hätte Verdacht geschöpft, dass sein Patient nicht auf natürliche Weise aus dem Leben geschieden ist.»
Die junge Frau starrte Laura an. Tränen liefen über ihr Gesicht.
«Glauben Sie im Ernst, dass Menschen an so was denken, wenn sie einen lieben Menschen verlieren? Ich wollte meinem Vater helfen, deshalb habe ich den Notarzt gerufen. Ich dachte, dass es
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