Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Augen nach einem sicheren Versteck. Die durften ihn nicht sehen. Er wusste es einfach. Wenn die ihn entdeckten, wäre er verloren. Taumelnd sprang er von einem Pfosten zum anderen, erreichte die dunkle Allee hoher Bäume, lief weiter, schaute sich nicht um, bis er die Lukaskirche erreichte, flüchtete in ihre tiefen Schatten und wagte erst jetzt zurückzuschauen. Alles war still. Sie waren nicht mehr da.
Ralf hockte sich in eine der dunklen Nischen, versuchte ruhig zu atmen, nachzudenken. Vielleicht waren sie gar nicht da gewesen. Nein, nein, er durfte sich nichts vormachen. Sie waren da gewesen. Er konnte nicht zu seinem Anhänger zurück. Nicht heute Nacht. Besser blieb er hier, in dieser dunklen Nische an der Kirchenmauer. Er wusste, dass ihm am Morgen alle Knochen wehtun würden. Der Boden fühlte sich verdammt hart an. Aber wenigstens war es warm und halbwegs sicher. Trotzdem schlief er nicht und dachte stundenlang darüber nach, wohin er umziehen könnte.
Laura fand es bemerkenswert, dass Kriminaloberrat Becker noch nicht angerufen hatte. Er ließ sie in Ruhe, es fragte sich nur, warum. Vielleicht war ihr Abgang doch stärker gewesen, als sie gedacht hatte. Plötzlich nervte es sie, dass der Tag so lang war und die Dunkelheit endlos auf sich warten ließ. Kurz nach zehn, und noch immer spürte man die Sonne, obwohl sie längst nicht mehr zu sehen war. Laura lag ausgestreckt auf der Couch im Wohnzimmer und blätterte zerstreut im Tagebuch eines polnischen Reporters, das Emilio Gottberg ihr vor ein paar Tagen geschenkt hatte. Halblaut las sie:
Sartre sagt in seinem Stück «Bei geschlossenen Türen»: «Die Hölle – das sind die anderen.» Aber ebensogut kann man sagen: «Die Hölle – das bin ich.» Die Hölle ist in mir, manchmal schlafend, manchmal aktiv. Aber sie ist – unser inneres, immanentes Wesen.
Eine Methode, die Hölle einzuschläfern: jeden Gedanken zu unterdrücken und zu verwerfen, der nur eine Spur Aggression, ein Körnchen Böses enthält. Diesen Gedanken nicht fortzuführen, ihn nicht Besitz ergreifen zu lassen von uns, sondern sich gleich zurückzuziehen, das Thema der Reflexion zu ändern, diese in eine Richtung zu lenken, die Welt und Menschen in günstigem Licht erscheinen lässt.
Laura ließ das Buch sinken und lehnte sich noch tiefer in die Kissen zurück.
«Und was ist mit der Hölle der anderen?», fragte sie laut. «Was mache ich, wenn die über mich hereinbricht? Darf ich dann auch nicht aggressiv werden? Mein Beruf ist nicht besonders geeignet zum Gutmenschentum. Ich bin ständig mit sämtlichen Höllen beschäftigt: meinen eigenen und denen der anderen!»
Trotz ihrer Müdigkeit und der Hitze hätte sie genau jetzt gern mit Ryszard Kapuściński, dem Verfasser dieser Gedanken, geredet. Aber er lebte nicht mehr, und selbst wenn er noch lebte … Laura lächelte über sich selbst. Mit sich selbst konnte sie auch ganz gut diskutieren, oder mit ihren Kindern, mit Baumann, mit ihrem Ex weniger gut, mit ihrem Vater, mit Angelo … Wieso rief er eigentlich nicht an? Es war bereits weit nach zehn! Sie zuckte leicht zusammen, als in diesem Augenblick das Telefon neben ihr klingelte. Sie schaute nicht auf das Display.
«Pronto!»
«Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, aber ich bin nicht der Commissario!», sagte der alte Gottberg. Laura atmete tief ein, erwiderte nichts.
«Was ist denn? Bist du noch da?»
«Ja, Vater. Aber ich warte auf Angelos Anruf.»
«Das könntest du auch auf meinem Balkon machen. Es ist sehr angenehm auf meinem Balkon. Vom Englischen Garten her weht ein kleines Lüftchen. Ich trinke gespritzten Weißwein und finde es schade, dass die Zeit der Glühwürmchen schon vorbei ist.»
«Was?»
Lauras Vater brach in Gelächter aus.
«Jetzt habe ich dich doch aus der Ruhe gebracht, nicht wahr? Das gelingt mir immer noch ganz gut!»
«Könntest du an meiner Stelle antworten, Vater?»
«Natürlich. Ich würde antworten: Das konntest du immer schon sehr gut, Babbo. Manchmal finde ich es lustig, und manchmal könnte ich aus der Haut fahren, wie meine Mutter.»
«Sehr gut, Babbo.»
«Na und?»
«Was und?»
«Na, was machst du heute Abend?»
«Gar nichts.»
«Bist du krank, Laura?»
«Nur müde. Außerdem lese ich gerade in dem Buch deines philosophischen Reporters.»
«Das ist gut! Dann können wir uns demnächst darüber unterhalten. Kommst du morgen?»
«Natürlich. Das haben wir doch heute ausgemacht!»
«Ja, aber bei dir kann
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