Hurra, wir leben noch
Nach einer halben Stunde setzte sich der Zug wieder in Bewegung.
»Was war das?«
»Keine Ahnung.«
»Warum sind wir stehengeblieben?«
»Ich sage dir doch, keine Ahnung, Trottel!«
Hinter Berlin überkam es dann Jakob wieder. Den Kopf in die Hände gestützt, murmelte er erstickt: »Eine halbe Million versprochen … und was haben wir geliefert? Ganze fünfundzwanzigtausendneunhundertundzwanzig Stück! Wir sind ja noch viel schlimmer als diese Funktionäre, Wenzel!«
»Ach, leck mich doch …«
»Du bist ein Zyniker. Dir ist alles egal! Mir nicht! Ich muß an die vielen Eier denken, die jetzt keiner von den armen Leuten hier kriegt. Besonders die Kinder! Die haben vielleicht noch nie ein Ei gesehen! Und hätten sie es sehen können, ihre Augen hätten geleuchtet … Glückliche Kinder, Wenzel … glückliche Kinder! Was können die kleinen Würmer für den ganzen Scheißkrieg? Und ich habe sie betrogen … betrogen … und sie sehen weiter kein Ei …«
»Ich werde noch wahnsinnig!« behauptete Wenzel brüllend. »Ich springe aus dem fahrenden Zug, wenn du nicht aufhörst, Jakob!«
»Das muß ich eben mit mir ganz allein abmachen«, murmelte Jakob gebrochen, »du hast kein Herz im Leib.«
»Ja, ja, ja! Mach’s bitte mit dir allein ab! Und halt die Schnauze!«
Jakob hielt die Schnauze, in unglückliches Grübeln versunken. Das nächste Mal konnte sie Wenzel nicht halten. Er schrie und wollte türmen, weil der Zug neuerlich auf freier Strecke gehalten hatte.
»Jetzt haben sie uns! Jetzt haben sie uns! Gleich kommen sie mit ihren Em-Pis …«
Also mußte Jakob ihn wieder k.o. schlagen. Tränen standen ihm in den Augen dabei. Nicht wegen seiner Roheit Wenzel gegenüber. Sondern weil er selbst so seelenlos beschissen hatte …
Jakob blieb während der ganzen Fahrt zerknirscht. Der Zug hielt noch einige Male, und Wenzel wurde noch einige Male hysterisch – mit den entsprechenden Folgen. Dann kamen sie endlich darauf, was schuld war an diesen unvermittelten Stops: Die Strecke verlief eingleisig! Das zweite Gleis war demontiert, und deshalb standen die Signale so oft auf Rot. Danach beruhigte sich Wenzel. Ein wenig. Ganz beruhigt war er erst, als kurz vor Helmstedt die sowjetische Begleitmannschaft ausgestiegen war. Jakob aber grämte sich bis Murnau – eine lange Zeit, wie man zugeben wird. Dann war ihm etwas eingefallen, und seine Miene hellte sich auf …
In Murnau wurden sie von einer großen Menschenmenge erwartet, die in Jubelrufe ausbrach. Es war gegen Abend. Bis in die Nacht hinein feierten die fröhlichen Bayern, und Jakob schwang das Tanzbein mit Frau Dr. Ingeborg Malthus. Erst gegen drei Uhr früh kamen die beiden in das Bootshaus. Diesmal fielen sie nicht ins Wasser. Diesmal zogen sie sich vorsichtig auf dem Steg aus, auf der richtigen Seite. Frau Dr. Malthus war zuerst im Bett. »Kommen Sie, Herr Formann«, flüsterte sie mit vor Erregung heiserer Stimme.
»Ich komme, gnädige Frau!« Jakob glitt neben sie. Während das Blut an seinen Schläfen zu hämmern begann, dachte er: Na schön, du hast einen Hieb, meine Liebe. Aber was ist eine Ausschüttung der Hypophyse?
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x 14. maerz 1947 x 14.32 uhr x achtung x achtung x hoechste dringlichkeit x von: deutsche vopo kommissariat k 5 x an: alle volkspolizeidienststellen x fall von schwerster Wirtschaftssabotage x 1) der oesterreichische staatsbuerger jakob formann x wiederhole jakob formann x wird zur großfahndung ausgeschrieben x formann befindet sich vermutlich gegenwaertig in der bizone x er ist 27 jahre alt x ledig x 1.75 meter groß x schlank x in koerperlich guter verfassung x haare schwarz x augen schwarz x besondere kennzeichen: keine x formann ist bei betreten der sbz sofort zu verhaften und auf schnellstem weg zu ueberstellen an sowjetische militaeradministration karlshorst x ende 1 x 2) dasselbe gilt für den deutschen staatsbuerger wenzel prill x wiederhole wenzel prill, der …
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STRENG GEHEIM
VON : SOWJETISCHE MILITÄRADMINISTRATION FÜR DEUTSCHLAND AN : PARTEIVORSTAND SOZIALISTISCHE EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS
BETRIFFT : WIRTSCHAFTSSABOTAGE DURCH WESTAGENTEN JAKOB FORMANN UND WENZEL PRILL SOWIE SKANDALÖSES VERSAGEN ZWEIER DEUTSCHER GENOSSEN
2. BERICHT Karlshorst, 17. März 1947
Es liegen die endgültigen Untersuchungsergebnisse zu dem im 1. Bericht geschilderten Verbrechen der US -Kreaturen Jakob Formann und Wenzel Prill vor. Fest steht nun, daß der Genosse Stephan Klahr ( KP -Landesverband Hessen) auf das
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