Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch

Titel: Hurra, wir leben noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
Vom Netzwerk:
Kirschen gesehen … Wie wird sich Roxane freuen! Das ist doch aber auch ein Festtag heute … oder?«
    »Weiß Gott«, sagte Jakob. An Kalders Seite ging er durch die Stadt. Sie erreichten den Hof des Attinger-Bauern. Der saß an einem Tisch neben dem Eingang zum Haus, grüßte brummig und trank erbittert grünlichen Tee. Er war in der Zwischenzeit trotz Doktor Schlichters Tee noch fetter geworden. (So fett wie der Franzl.)
    Frau Kalder mußte aus dem Fenster gesehen haben, denn sie kam ihrem Mann aus dem Haus entgegengelaufen.
    »Bitte, öffnen Sie meine Aktentasche«, bat Herr Kalder. Er entnahm der Tasche die Lizenzurkunde und hielt sie in der rechten Hand. In der linken Hand hielt er die Tüte mit den Kirschen. So schritt er auf seine Frau zu.
    »Oh, Jan, Jan! Du hast die …«
    »Lizenz, ja! Und hier, für dich! Kirschen!« rief Herr Kalder. Es waren seine letzten Worte hienieden. Nach ihnen fiel er um und bewegte sich nicht mehr.
    »Um Gottes willen, Jan!« rief die unglückliche Frau Kalder.

76
    Akutes Herzversagen.
    Das stellte eine eiligst herbeigerufene Ärztin fest, nachdem sie als erstes der in ihrem Schmerz hysterisch tobenden Frau Kalder eine Spritze gegeben und sie zu Bett gebracht hatte, wo sie nun schlief. Eine Menge Leute waren zusammengelaufen. Auch Frau Dr. Ingeborg Malthus war da. Bleich und erschüttert stand sie neben Jakob.
    »Er hat sich eben zu sehr gefreut«, sagte Frau Dr. Malthus.
    »Worüber?« fragte die Ärztin.
    »Über die Lizenz … Er hat heute endlich die Lizenz für eine Illustrierte bekommen. Die Lizenzerteilung war einfach zuviel für ihn, Frau Doktor.«
    »Oder die Kirschen«, sagte Jakob. Kein Mensch, der diese Zeilen heute liest, vermag sich vorzustellen, was 1947 eine Tüte Kirschen bedeutete. »Es wird wohl das Zusammentreffen von beidem gewesen sein«, sagte die Ärztin.
    »Aber er war kerngesund! Hatte nicht das geringste am Herzen, das weiß ich!«
    »Ach«, meinte die Ärztin, während sie schon den Totenschein ausstellte, »das bedeutet gar nichts. Was glauben Sie, wie oft das gerade jetzt vorkommt, Frau Malthus. Früher starben die Menschen an Herzversagen bei zu großem Schmerz, heute sterben sie bei zu großer Freude.« Die Ärztin verstand von derlei Dingen etwas – sie war die Tochter eines bedeutenden Münchner Psychiaters.
    Jan Kalder wurde drei Tage später auf dem Friedhof an der Kirche von Murnau beigesetzt. Die Trauergemeinde war klein. Bienen summten, Blumen blühten zwischen den Gräbern, und heftiger Föhn bewegte die Äste. Die Ärztin und der Attinger-Bauer stützten Frau Kalder, die fassungslos schluchzte.
    »… der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …«, sprach der evangelische Pfarrer am Grab, während der Sarg hinabgelassen wurde. Frau Kalder schwankte heftig. Der Attinger-Bauer und die Ärztin hatten alle Mühe mit der Witwe.
    »… Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser …«, sprach der Geistliche.
    »Und alles war umsonst«, sagte Frau Dr. Malthus, die neben Jakob stand, leise.
    »… Er erquicket meine Seele; Er führet mich auf rechter Straße, um Seines Namens willen …«
    »Wieso war alles umsonst?« flüsterte Jakob.
    »Die Lizenz galt doch nur für Herrn Kalder!« flüsterte Frau Dr. Malthus.
    »… und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück …«
    »Nein«, sagte Jakob leise.
    »… denn Du bist bei mir, und Dein Stab tröstet mich …«
    »Was, nein?«
    »Nein, es war nicht alles umsonst.«
    »Was soll das heißen?«
    »
Ich
beantrage jetzt die Lizenz.«
    »… Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde …«
    »Sie? Sie sind ja wahnsinnig! Niemals kriegen Sie eine Lizenz,
niemals!
«
    »Wetten, daß? Ich muß nur schnell mal rauf nach Heidelberg«, sprach Jakob Formann.
    »… Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein«, sprach der Pfarrer.

77
    An einem milden Nachmittag im frühen September 1947 gab Jakob sein Fahrrad an der Garderobe eines Cafés im Münchner Dichter-und-Denker-Viertel Schwabing in Aufbewahrung.
    »Ist Herr Kästner da?« fragte er die Dame, die Dienst tat.
    »Der Herr Doktor Kästner ist immer da um diese Zeit«, antwortete sie. Jakob dankte, besah sich im Spiegel, strich das Haar zurecht, zupfte an seinem Krawattenknoten, räusperte sich energisch – er wurde nicht besser, sein Zustand. Jakob hatte Lampenfieber. Ach was, Schiß hatte er vor einer Begegnung mit Erich Kästner, dessentwegen er

Weitere Kostenlose Bücher