Hurra, wir leben noch
blätterte in einem Terminkalender. »… Nein, früher geht es nicht, ich bin überlastet. Sie kommen am nächsten Freitag um drei Uhr nachmittags wieder.«
»Gewiß, Doktor. Nächsten Freitag, drei Uhr.«
Am nächsten Freitag um 3 Uhr p.m. US -Eastern Time war Jakob Formann dann schon einen ganzen Tag rund tausend Kilometer Luftlinie südlich von Moskau, in Rostow am Don, Hauptstadt (650 000 Einwohner) des gleichnamigen Gebietes der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, im Büro des dorthin kommandierten Genossen Jurij Blaschenko von GOSPLAN , der Zentralen Planungsbehörde für die gesamte Sowjetunion.
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»Ich danke dir, Jakob, ich danke dir, daß du so schnell gekommen bist«, sagte Jurij herzlich und schlug Jakob mit Bärenkraft auf die Schulter. »Wir brauchen dich wie der Verdurstende einen Schluck Wodka. Denn wir sitzen in der Scheiße.« Im Gegensatz zu Jakob, der immer noch kein Französisch konnte, sprach Blaschenko mittlerweile ein fast akzentfreies Deutsch. Auf ein herzliches ›Du‹ hatten sie sich schon beim letzten Treffen geeinigt.
»War der Flug gut?«
»Ausgezeichnet. Diese ›Learstar‹ …« Jakob schwärmte ein bißchen. »Wir sind über Österreich geflogen, weißt du, Jurij, die Deutschen hätten da doch nur Schwierigkeiten gemacht.«
»Wir?«
»Meine Freundin habe ich mitgenommen. Ein Mannequin. Ein süßes Mädchen. Du mußt sie unbedingt kennenlernen. Wie die mich liebt! Und sie war noch nie in der Sowjetunion! Also, setz dich hin und sag deinem alten Freund Jakob, was du jetzt brauchst.«
Blaschenko kratzte sich verlegen den Nacken.
»Was hast du denn? Warum kratzt du dich so im Genick, Jurij?« fragte Jakob.
»Ich sag’ dir gleich, was wir jetzt brauchen, Jakob«, antwortete Jurij Blaschenko und blickte schwermütig durch das Fenster seines Büros auf den großen Hafen hinab. »Erlaubst du zuerst eine Frage?«
»Natürlich!« Jakob wunderte sich. »Was ist denn los mit dir?«
»Ich mache mir Gedanken. Über dich, Jakob.«
»Über mich?«
»Ja. Darüber, was du für ein Mensch bist.«
»Was für ein Mensch … Weißt du, ich glaube, der Kern ist gut.«
»Nein, ich meine, wie es in dir aussieht. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen wie dich. Einen, der so bedenkenlos und ohne Hemmungen vor sich selbst oder anderen Geschäfte mit dem Westen
und
dem Osten macht, mit dem Norden
und
dem Süden, mit Kommunisten
und
Kapitalisten, mit Juden
und
Katholiken, mit Schwarzen
und
Weißen. Ich kann das nicht begreifen!«
»Das ist ganz einfach, Jurij: Ich bin ein ganz einfacher Mensch«, sagte Jakob bescheiden. »Schau, du sagst: Bedenkenlos und ohne Hemmungen mache ich Geschäfte mit allen. Das stimmt. Aber warum fällt mir das nicht schwer? Warum habe ich keine Hemmungen? Weil ich ein Charakterschwein bin? Nein, lieber Jurij. Das ist alles neu gebaut, die Wohnhäuser und die Fabriken um die Stadt, nicht?«
»Ja, mein Freund«, sagte Blaschenko leise und traurig wie immer. »Im Krieg …«
»… haben wir das alles kurz und klein gemacht, ich weiß. Ich war schon einmal hier. Aber weiß Gott nicht freiwillig. Damals habe ich noch anders gedacht als heute. Heute, Jurij, habe ich so viel erlebt, daß ich eine ganz andere Einstellung zu dieser Welt und ihren Menschen habe. Ich habe Freunde, und ich habe Feinde. Ich arbeite, wie du sagst, für die eine Seite, und ich arbeite für die andere Seite. Ohne Skrupel! Warum? Ich kann mich in beide Seiten hineindenken, siehst du? Ich kann für beide Seiten Entschuldigungen oder Empfehlungen finden. Ich schätze beide Seiten gleich. Wenn ich die eine Seite und die andere Seite lobe und verstehe und entschuldige, dann kommen natürlich immer mehr Für und Wider.« (Vor ein paar Jahren, an einem Abend im HÔTEL DES CINQ CONTINENTS in Paris, hatte er in einer Vision ganz anders gesprochen!) »Für und Wider, und Wider und Für in unserer so gescheiten und so verdrehten und so blödsinnigen Welt … Weißt du, Jurij, ich glaube, eine solche Welt könnte ohne das Für und ohne das Wider überhaupt nicht bestehen! Für und Wider gehören zusammen, das eine wie das andere hat die gleichen Rechte und die gleiche Berechtigung, und erst zusammen ergeben beide das Ganze – unsere Welt! Und es ist nur unsere Dummheit oder unsere Zerstörungswut oder unsere angeborene Schlechtigkeit, die uns zwingt, die eine Seite zu verehren, anzubeten, zu vergöttern und die andere zu verachten, zu bekämpfen, zu verteufeln. Denn diese Welt
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