Hurra, wir leben noch
Reflex – das ist eine angeborene, vom Willen unbeeinflußte Reaktion – wird durch einen natürlichen Reiz ausgelöst, also zum Beispiel: Ihre Lider schließen sich blitzschnell, wenn sich den Augen etwas nähert.« Und dabei stieß dieser quasselnde Doktor mit dem Finger in Richtung auf Jakobs rechtes Auge, dessen Lid natürlich herunterklappte.
»Und was hat das mit mir zu tun?« fragte Jakob mürrisch.
»Man kann einen solchen Unbedingten Reflex – das Sabbern, wenn der Hund Futter riecht oder sieht – jedoch mit einem zunächst unwirksamen, neutralen Reiz, zum Beispiel mit einem Ton – die Bimmel! – koppeln, wir sagen ›konditionieren‹. Was machen Sie denn da die ganze Zeit für wilde Bewegungen, Mister Formann? Es scheint mir sehr schlimm um Sie zu stehen …«
»Ich … ich … Sperry Rand zweihundertachtundachtzig! Doktor, darf ich ganz schnell mit meinem Broker in Wallstreet telefonieren? Ich habe eine Masse Sperry Rand, und mein Broker weiß nicht, wo ich bin!«
»Natürlich. Geben Sie mir seine Nummer, Mister Formann.«
Jakob gab sie. Dr. Watkins wählte die Nummer von Schwester Eileen und gab ihr die Nummer. »Legen Sie das Gespräch dann herein, bitte. Hm. Ja, also ganz vereinfacht: Wir werden auch Sie konditionieren, Mister Formann. Essen wie die feinen Leute können Sie schon, gut. Bei allen anderen Fällen wollen wir Sie auf Reizworte trimmen. Also Wagner, Hemingway, Einstein, Stalin, Christian Dior, Eisenhower, Politik, abstrakte Malerei, Zwölftonmusik … Sie verstehen? Haha! Hmhm. Wenn Sie das Reizwort hören, reagieren Sie wie die Hunde in Sankt Petersburg beim Bimmeln. Sie fangen an zu sabbern. Sie sabbern die mit dem Reizwort als Bedingtem Reflex gekoppelten Worte, ganze Sätze. Die prägen sich Ihrem Gehirn unauslöschlich ein, Sie haben sogleich so einen Satz zur Hand und sind gerettet. Verstanden?«
»Nein.«
»Hm.«
»Wenn Sie mir vielleicht ein Beispiel geben könnten, Doktor?«
»Hm. Kennen Sie Meyerbeer? Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht. Dazu hatte ich ja die Edle.«
»Die brauchen Sie nicht mehr. Ich konditioniere Sie, daß Sie über sich selber staunen werden. Hm. Schauen Sie: Wagner – ein Komponist. Meyerbeer – auch ein Komponist! Nur so, aus dem Handgelenk geschüttelt, als Beispiel: Sie hören den Namen Richard Wagner. Ich habe Sie für dieses Reizwort mit Meyerbeer konditioniert. Also: Man spricht über Richard Wagner, und Sie sabbern automatisch: ›Wagner kann ich nur dort folgen, wo er von Meyerbeer beeinflußt ist!‹ Umgekehrt geht’s genauso: Auf das Wort Meyerbeer sagen Sie: ›Ja, der Meyerbeer! Wagner kann ich nur dort folgen, wo er von Meyerbeer kondi … äh … beeinflußt ist … Man wird Sie für einen phantastischen Wagner- oder Meyerbeer-Kenner halten und nicht wagen, weitere Fragen an Sie zu richten. Apodiktisch sagen Sie den Sabbersatz natürlich. Und sind aus dem Schneider.«
»Apo …«
»O Gott, natürlich. Sie wissen nicht, was apodiktisch heißt. Unwiderleglich. So, daß sich keiner traut, noch etwas zu sagen, klar?«
»Das klingt verdammt gut, Doktor!«
»Es wird aber eine Menge Arbeit geben, Mister Formann, viele Sitzungen. Doch wir werden es schon schaffen.« Das Telefon läutete. »Ja? … Einen Moment … Für Sie, Mister Formann, Ihr Broker.«
Liegend nahm Jakob den ihm gereichten Hörer ans Ohr.
Eine Stimme erklang hastig, die Worte überschlugen sich. Das war Jakobs Broker. Er erhielt gleichfalls den Auftrag, Sperry Rand sofort abzustoßen. Jakob sprach nur kurz, dann hielt er den Hörer in die Luft. Der hinter ihm sitzende Analytiker legte den Hörer in die Gabel zurück. »Danke, Doktor. ›Wagner kann ich nur dort folgen, wo er von Meyerbeer beeinflußt ist …‹ Großartig! Da traut sich wirklich keiner, noch das Maul aufzumachen.«
»Hm.«
»Bitte?«
»Sie sagten, Sie leiden auch darunter, daß Sie von einer bestimmten Gruppe Menschen verachtet werden, daß es Ihnen nicht gelingt, in gewisse Kreise einzudringen, dort Freunde und Anerkennung zu finden – trotz Ihres Namens, trotz Ihres Geldes …«
»Ja, Doktor. Darunter leide ich wirklich. Das geht nun schon seit vielen Jahren so. Da kriege ich Minderwertigkeitsgefühle. Was ist das bloß? Warum, Doktor, warum? Ich habe doch so vieles geschaffen! Ich habe doch so unheimlich viel geleistet! Und trotzdem …«
»Nicht trotzdem.
Deshalb
, Mister Formann. Hm.«
»Deshalb?«
»Sehen Sie, hm, lieber Freund, hm, Sie haben
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