Hurra, wir leben noch
s, so wie du und ich es waren? Nein, nein, so was Feines gibt’s nur für Hohe Herren, mein Lieber!« Mojshe grinste.
Jakob sank auf einen Hocker.
»Wahnsinnig«, murmelte er, indessen von draußen, übertragen durch den Lautsprecher, immer weiteres Gefluche und Gebrüll in die Kammer drang, »ich bin wahnsinnig geworden. Bei mir ist es losgegangen! Ich bin gar nicht in Saigon! Und dich gibt es gar nicht, Mojshe! Und die da drinnen auch nicht! Das sind nur Ausgeburten meines Wahnsinns!«
»Hör auf«, sagte Mojshe streng. »Augenblicklich! Alles, was du hörst und siehst, gibt es! Vor allem mich! Du hast gesagt, ich soll dir zeigen, was ich in Saigon treibe – ja oder nein?«
»Ja – ha …«
»Na also. Und so zeige ich es dir also heute.« Heute, das war der 9. November 1964, und Mojshe zeigte Jakob das Innere eines großen Hauses an der Rue Catinat. Er setzte sich neben Jakob. »Ich betreue das ›T-Gruppen-Programm‹ der amerikanischen Streitkräfte, die sehr bald hier eingesetzt werden sollen. Verstehst du?«
»Kein Wort!«
Die Geräusche, die von der Turnhalle zu ihnen drangen, ließen Jakob erschauern. Die neun Mann brüllten immer noch auf den zehnten ein, und der zehnte übergab sich ununterbrochen.
»Paß auf, daß ich es dir erkläre: ›T-Gruppen‹, so nennen wir diese ›Trainings-Gruppen‹. Das Programm – von dem du erst ein bißchen gesehen hast, hat eine amerikanische Forschergruppe bereits 1947 auszuarbeiten begonnen. Das ist ein zusätzlicher Erziehungsfaktor für Normalpersonen – nicht eine Therapie für Neurotiker!«
»Mensch, bist du gebildet, Mojshe!«
»Man lernt natürlich mit der Zeit«, sagte Mojshe. »Diese ›T-Gruppen‹, die jeder vom Generalstab mitmachen muß …«
»Ja, aber um Himmels willen, wozu …«
»Laß mich es dir erklären, Jake, du kannst es nicht wissen in deiner Beschränktheit: Also, diese ›T-Gruppen‹ werden unterteilt in ›Encounter‹- und ›Sensibility‹-Trainingsgruppen. Ist beides dasselbe. Nur der Spaß ist verschieden – wie du gleich sehen wirst. Das hier, das ist eine ›Encounter‹-Gruppe. Das heißt, hier äußert jeder frei, was er über den andern denkt. Auch alle auf einmal können sich äußern.«
»Aber wozu?«
»Na, Jake, Junge, so was stärkt doch ungeheuer das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Kampfgeist! Darum macht man das jetzt auch hier in Saigon, wo’s gleich richtig losgehen wird. Früher hat man die Ausbildung in den Staaten gemacht. Ich bin ein armer Hund, das weißt du ja, bin es immer gewesen, und also bin ich in der Army geblieben, das habe ich dir auch schon erzählt. Nachdem mein Alter gestorben ist, war überhaupt kein Geld mehr für meine Mutter und meine Schwester da. Also, was ist mir übriggeblieben?«
»Das verstehe ich alles, Mojshe«, sagte Jakob und fuhr zusammen, weil von draußen ein besonders tierischer Schrei des so entsetzlich beschimpften zehnten Mannes in die kleine Kammer gedrungen war.
»Reg dich nicht auf, Jake! Nach diesem General kommt der nächste dran. Alle kommen sie dran! Wo war ich? Ach ja: Also was ist mir da übriggeblieben, als Soldat auf Zeit zu werden? So habe ich die ganze Korea-Scheiße mitgemacht – im Vertrauen: Den Kerl, den sie da drinnen gerade in der Mache haben, den kenne ich von damals, das ist wirklich ein ganz großes Arschloch! –, und dann bin ich natürlich befördert worden und befördert, und jetzt kann ich Mutter und Schwester ordentlich ernähren und fliege dauernd zwischen Los Angeles und Saigon hin und her.«
»Hast du Los Angeles gesagt?« hauchte Jakob.
»Habe ich. Ja. Warum?«
»George Misaras ist dort, und ich bin auch oft dort – aber das habe ich dir ja schon alles erzählt. Auch daß sie den armen Jesus umgebracht haben, die weißen Schweine da im Süden!« Mojshe nickte traurig. »Aber daß wir einander nie gesehen haben, das ist unfaßbar!«
»Viele Sachen sind unfaßbar«, sagte Mojshe. »Ich werde dir gleich noch ein paar zeigen. Stimmt schon, wir hätten uns mal begegnen können. Aber ich bin doch dauernd unterwegs gewesen! Korea. Deutschland. Weiß ich, wo überall. Und jetzt, jetzt fliege ich die ganzen Generalstäbler, die für den Krieg hier vorgesehen sind, hin und her. Sie machen solche ›T-Gruppen‹ auch drüben, aber hier machen sie das jetzt auch, damit die Herren sozusagen im Angesicht des bösen Feindes noch einmal richtig mutig werden. Und ich bin so was wie der Reiseleiter, kapierst du?«
»Gratuliere«,
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