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Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch

Titel: Hurra, wir leben noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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mache mir meine Werte und meine Weltgeltung alleine. Also habe ich das Zeug in den Papierkorb geschmissen. Aber jetzt haben diese Brüder von dem Stotterverein mir ganz dringende Fernschreiben geschickt, ich soll unbedingt heute herkommen. Was wird schon sein?«
    »Aber hängt das nicht vielleicht mit der Krise zusammen?« fragte Otto besorgt.
    »Klar.« Jakob lachte, aber freudlos. »Diesen CW -Verein, verstehst du, Otto, haben die großen Banken aufgezogen. Und ich habe doch eine Menge mit den Banken zu tun.«
    »Aber was bedeuten eigentlich solche Sprüche wie ›Weltgeltung Deutscher Werte‹?« fragte Otto. »Was ist das für eine blödsinnige Bezeichnung?«
    »Ich kann es dir im Moment auch nicht sagen, mein Alter.« Jakob pfiff wieder fröhlich. Diesmal, weil ein Mädchen mit einem sehr kurzen Rock und einer sehr ausgeschnittenen Bluse an ihnen vorüberglitt. Er winkte dem Mädchen zu. Es winkte zurück. Na, funktioniert ja noch, dachte Jakob. »Bei uns gibt es eine Menge blödsinnige Bezeichnungen, weißt du?« fügte er hinzu. »Ich werde jetzt ja gleich erfahren, was das heißen soll: ›Wahrung der Weltgeltung Deutscher Werte‹!«

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    »›Weltgeltung Deutscher Werte‹, das soll heißen: Ehrlichkeit, Tüchtigkeit, Sauberkeit, Qualität und Sicherheit, Herr Formann. All das hat die Markenbezeichnung ›Made in Germany‹ zu einem Begriff werden lassen! In diesen schweren Zeiten ist eine Institution vonnöten, die darüber wacht, daß der Weltbegriff ›Made in Germany‹ weiterhin bestaunt, begehrt und bewundert wird, und zwar meine ich damit ebenso alle Produkte ›made in Germany‹ wie die Hersteller aller Produkte ›made in Germany‹ beziehungsweise, und das eigentlich vor allem, die absolute Honorigkeit und über alles erhabene Integrität der Führer unserer Wirtschaft«, sagte der Herr an der Spitze des langen Tisches in dem kostbar eingerichteten Konferenzraum – Mahagonitäfelung, dicke Teppiche, ein Prachtleuchter – eine halbe Stunde später zu Jakob. Er lächelte ihn freundlich an. Jakob lächelte nicht. Jakob bekam keinen Ton heraus, und das wollte etwas heißen. Jakob war sprachlos. Und die Narbe an seiner Schläfe pochte wie noch nie.
    Außer Jakob saßen an dem langen Tisch sieben Herren. Sechs davon waren Generalbevollmächtigte von Großbanken, mit denen Jakob zusammenarbeitete – seit vielen Jahren. Er kannte sie alle. Er kannte auch den siebenten Herrn, der an der Spitze der Tafel saß – als Präsident des CONSILIUM ZUR WAHRUNG DER WELTGELTUNG DEUTSCHER WERTE UND WÄHRUNGSINTERESSEN . Dieser siebente Herr hatte zu ihm gesprochen. Er war sehr groß, blond, blauäugig und von dezenter Eleganz. Ein Hauch eines äußerst dezenten Eau de Cologne umgab ihn. Er war sozusagen das fleischgewordene Sinnbild der Weltgeltung deutscher Werte.
    »Sie!« sagte Jakob, während ihm immer mehr Blut in den Kopf schoß.
    »Bitte?«
    »Sie!« Jakobs Fäuste ballten sich.
    »Herr Formann, Sie wiederholen sich.«
    »Sie Schw …« Im letzten Moment fing sich Jakob. Die Bankenvertreter sahen ihn bereits mit hochgezogenen Augenbrauen an. Scheiße, dachte unser Freund, ich kann nicht so, wie ich will. Ich kann jetzt nicht ›Schweinehund‹ sagen zu diesem Schweinehund, diesem verfluchten. Nein, dazu ist meine Lage zu mies. Dazu sind diese Herren zu fein. Dazu bin ich zu abhängig von ihnen. Aber das ist doch wirklich die Höhe!
    »Wie meinen Sie, Herr Formann?« fragte der Präsident, immer noch freundlich lächelnd.
    »Herresheim …«
    »Herr von Herresheim, nicht wahr?« mahnte der Präsident.
    Da sitzt er also nun, dieser ehemalige Herr Wehrwirtschaftsführer aus dem Dritten Reich, dachte Jakob, schwer atmend. Dieses Arschloch, dem ich in all den Jahren immer wieder und wieder begegnet bin, und zwar in immer ehrenvolleren und höheren Positionen, dieses Herresschwein, das ich versucht habe, mit Hilfe von sowjetischem Belastungsmaterial abzuschießen, was mir nicht gelungen ist. Da sitzt dieser Schweinesherr, dem ich nichts anhaben kann, dem keiner etwas anhaben kann, nicht das geringste – er, der einzige, dem ich nicht gewachsen bin, er, der Unbesiegbare!
    Einer der Bankmenschen räusperte sich lange und laut. Seine Kollegen waren gleich ihm verwirrt über Jakobs Betragen. So geht das nicht, dachte der, denn er bemerkte natürlich die Verwirrung. Ich muß hier einen glänzenden Eindruck machen, nicht einen absonderlichen. Und zwar schleunigst.
    »Ich war nur so erstaunt, Sie hier

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