Hustvedt, Siri
«irgendwie
anders»? Jessie hatte gesagt, ich müsse mittlerweile doch erkannt haben, dass Alice
«irgendwie anders» sei. Wie anders? Wahrnehmung ist mit sichtbaren Unterschieden
beladen, mit Licht und Schatten und Gegenstandsmassen und sich bewegenden Körpern,
aber es gibt auch immer unsichtbare Unterschiede und Ähnlichkeiten, Ideen, die
den Strich ziehen, trennen, isolieren, kennzeichnen. Auch ich war und bin irgendwie
anders. Keine aus der Bande. Außerhalb, immer draußen. Ich spüre, wie mich die
kalten Winde umwehen. Ich würde entscheiden müssen, was ich mit ihnen machte: der
Clique, den Mädchen. Ich konnte nicht einfach über die Sache hinweggehen. Aber
ich würde dem Drang widerstehen müssen, sie zu hassen, meine sechs noch ungeformten
kleinen Miezen mit ihren sadistischen Vergnügungen, dem Neid, den sie aus allen
Poren schwitzten, und mit ihrem schockierenden Mangel an Mitgefühl. Ashley, die
Prinzessin der Bestrafung. Hatte ich es nicht erkannt, als sie Flora anschaute?
Ashley, meine eifrige Schülerin. Das Mädchen wollte Macht. Zweifellos hatte sie
zu Hause zu wenig, als mittleres Kind in dieser großen Familie, das wahrscheinlich
um die Anerkennung von Ma und Dad gekämpft hatte. Seht mich an! Bestimmt verdiente
auch sie Sympathie. Ich dachte an ihre Mutter; es ist schlimmer, die Mutter einer
Rabaukin zu sein als die eines Opfers, schlimmer, ein grausames Kind zu haben als
eines, dessen Verletzlichkeit Angriffsflächen bietet. Ich würde mir eine Strategie
ausdenken müssen, wenn schon nicht um das Problem aus der Welt zu schaffen, so doch
zumindest, um es ans Tageslicht zu bringen. Der Ausdruck gefällt mir: etwas ans
Tageslicht bringen. Vor mir sehe ich die großen Felder außerhalb von Bonden, eben
und weit, und darüber den unendlichen Himmel.
Am ersten Abend
nach ihrer Ankunft weinte ich mich bei Bea aus. Man hätte annehmen sollen, dass
das ganze, sich über gut sechs Monate hinziehende Heulen und Plärren meine Tränenkanäle
trockengelegt und meine Augäpfel dauerhaft flutgeschädigt hätte, aber anscheinend
gibt es einen unendlichen Vorrat dieses salzigen Sekrets, und es kann in regelmäßigen
Abständen ohne bleibende Auswirkungen reichlich vergossen werden. Der alte Fleischestempel
ist wahrlich ein Wunderwerk. Es fühlte sich so gut an, Bea bei mir zu haben, die
mir auf den Rücken klopfte, mich beruhigte und mich ein bisschen in den Armen wiegte.
Mia und Bea. Als wir mit meinem tränenreichen Gejammer fertig geworden waren, legten
wir uns in das Bett der Burdas, und sie setzte mich ins Bild über das Tun und Lassen
von Jack und den Jungs (Jack, der gute alte, gute alte, der sie in den Wahnsinn
trieb mit seiner Freizeit-Bildhauerei, deren Ergebnisse sie als Erektionen bezeichnete, weil jede einzelne seiner Skulpturen von
Gaudis Phalli oben auf La Pedrera inspiriert war, emporragende Auswölbungen, die
sie nicht überall auf dem Rasen herumstehen haben wollte. Sie wollte keine Skyline
von Ständern in ihrem Garten haben, Himmelherrgott. Jonah, der mit Erfolg studierte,
Ben, der an der Schule nicht mehr so recht weiterwusste, aber im Musiktheater groß
rauskam und noch nie eine Freundin gehabt hatte, und vielleicht ist er ja schwul, was für Bea kein Problem gewesen wäre,
sie wusste nur, dass sie es nicht als Erste sagen durfte, welche Mutter würde das
tun, wenn es vielleicht nicht stimmte, und außerdem war er nie offensichtlich tuntig
oder so was gewesen, deswegen mussten sie einfach abwarten, bis er es selbst herausbekam,
und ihre Arbeit als Juristin, die sie genauso liebte, wie Harold, unser Vater, sie
vor ihr geliebt hatte, die Spitzfindigkeiten, Hintertürchen, Präzedenzfälle und
sogar die Schinderei).
Und dann lagen
wir, unsere Köpfe, einer braun, einer rot, in die Kissen gekuschelt, nebeneinander
im Bett, blickten nach oben an die weiße Decke und erinnerten uns daran, wie wir
früher Baby Tick gespielt hatten. Ich war meistens Tick, das Riesenentenbaby in
Windeln, das zu Beas johlender Freude sabberte und kotzte und Kacka machte und gutturales
Gebrabbel von sich gab. Wir erinnerten uns an Mrs. Klinchklonch, die Hexe, die
wir erfanden, eine Kinderhasserin, und wie viel Spaß wir hatten, ihre abscheulichen
Taten zu beschreiben. Sie warf Kinder aus dem Fenster, tauchte sie in Brunnen, pfefferte
sie stark und tunkte sie in Schokoladensauce. Wir erinnerten uns daran, wie wir
die Mellolards wurden, eine Singgruppe, die auftrat, wenn wir an unserem roten Tischchen
auf unseren
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