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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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im Morgengrauen mit seinen ausgeklügelten Vorschriften, seinen
Sekundanten und dem Schritteritual; seine mythische Wiedergeburt im Wilden Westen,
wenn der mit dem schwarzen Hut und der mit dem weißen mit ihren Colts aufeinander
schießen; die schlichten alten Wir-machen-es-draußen-aus-Faustkämpfe zwischen zwei
männlichen Gegnern, die jeweils von einem Lager angefeuert werden; sogar die Spielplatzprügelei
(der blutig geschlagene kleine Junge kommt nach Hause, wo der Vater ihn fragt:
«Junge, hast du gewonnen?») - alldem wird in der Kultur eine Würde zuteil, mit der
sich keine Form weiblicher Rivalität messen kann. Ein physischer Kampf zwischen
Mädchen oder Frauen ist ein Zickenkampf, mit Kratzen, Beißen, Ohrfeigen, hochfliegenden
Röcken und dem Ruch des Lächerlichen oder, umgekehrt, des erotischen Spektakels
zum Vergnügen der Männer, der ergötzliche Anblick von zwei Frauen, die «die Fetzen
fliegen lassen». Aus solch einem Zank siegreich hervorzugehen hat nichts Edles.
So etwas wie einen guten, sauberen Zickenkampf gibt es nicht. Während ich da saß
und Alice' trauriges, gerötetes Gesicht ansah, stellte ich mir vor, wie sie Ashley
einen Kinnhaken versetzte, und fragte mich, ob die männliche Lösung nicht brauchbarer
sei. Würden Mädchen weniger leiden, wenn sie sich gegenseitig einen überzögen, statt
gemeine Sabotagespielchen auszuhecken? Doch das, dachte ich, könnte nur in einer
anderen Welt geschehen. Und selbst in jener unwahrscheinlichen Welt, in der sich
ein Mädchen nach einem Ringkampf mit seiner Angstgegnerin den Staub abklopfen und
zur Siegerin erklären könnte - was wäre da besser?
    Als ich mich
dann von ihnen verabschiedete, hatte Ellen es geschafft, ihr großes Mädchen auf
ihren Schoß zu hieven. Mutter und Tochter waren von dem Sitzsack umschlossen, in
dem Ellen vorher allein gesessen hatte, nur Minuten bevor sie Alice' Saga von Kabale
und Hieben gelauscht hatte. Alice hatte den Kopf an der Schulter ihrer Mutter begraben,
und ihre nackten langen Beine hingen über die Seite des Sessels. Ellens Hand strich
langsam und rhythmisch über den Rücken ihrer Tochter. Hinter den beiden bemerkte
ich eine Reihe von Puppen des Kindes auf einem Bord. Das ungerührte Porzellangesicht
der einen starrte auf die Wand hinter mir. Ein anderes Püppchen hatte ein schwaches
Lächeln auf den rosa Lippen. Die Puppe einer Frau im Kimono stand in starrer Habt-achtstellung.
Eine antike Babypuppe lag auf dem Rücken, die Arme in der Luft. Der Chor, dachte
ich, und auf einmal rührten sie sich und bewegten synchron die Lippen. Ich sah ihre
Zähne. Einen Moment lang lebte der alte Zauber in ihnen wieder auf, Animus, elan vital. Auf meinem «Heim»-Weg auf dem Bürgersteig
fiel mir etwas Zusammenhangloses ein:
     
    Nun reißt's
auch mich aus der Bahn heraus der Satzungen, da ich das sehen muß. Und halte nicht
länger der Tränen Quell.
     
    Im Weitergehen
sprudelte durch die Bewegung die Quelle heraus. Es war dem Puppenchor zu verdanken. Antigone. Ich lächelte. Eine Tragödie als Zerrbild,
aber, sagte ich mir, es geht auch um Leid. Und wer könnte Leiden ermessen? Wer
von Ihnen wird das Ausmaß an Schmerz ermitteln, das in einem beliebigen Moment in
einem Menschen zu finden ist?
     
    Multipliziere
durch Worte, Alice,
    Dein luftiges
Geschwader, das Pfeile speit,
    Silben zersplittert,
Glas zerbricht,
    Zorn himmelwärts
schleudert.
    Die hundert
Schwindler,
    Auf der Seite
ausschwärmend: Das bist du,
    Ein tausendfaches
Grinsen eingezeichnet,
    Während Eierköpfe
zertrampelt werden,
    Nenn das Gorgonenhaupt
im Spiegel
    Alice. Der
Monster-Zwilling, die andere Version,
    Aus dessen
Mund tödliche Stürme kommen,
    Verbotene Gedanken,
schamlose Sentenzen
    Unterdrückt
in Jahren stiller Heiligkeit.
    Wohlerzogenheit.
Benehmen: exzellent.
    Weine, Alice,
schrei, wenn du willst!
    Ganze Bäche
von Tränen, ein Strom
    Von Ns für
Nadeln aus deinen Augen
    Deine vielen
Ichs. Deine Vielfalten.
    Stifte Unruhe,
Alice, mach Krach, mach Ärger, rede,
    Und wünschst
du dir was, wünsch es dir drei Mal,
    Wünsch sie
alle weg. Schreib sie nichtig,
    Schwärze ihre
Leiber mit Tinte.
    Stopf sie mit
sublimiertem Zuckerzeug,
    Bis sie sich
winden und unter
    Deine tanzenden
Füße fallen.
     
    Ich war mir
überhaupt nicht sicher, ob ich das Gedicht mochte, aber es tat mir unheimlich gut,
es zu schreiben. «Warum sind sie so gemein zu mir?», hatte Alice mehrmals leise
und fassungslos gesagt. War das nicht der verwirrte Kehrreim auf das

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