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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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mysterianen Philosophien, denen
man mitunter nur schwer folgen konnte. Doch an jenem Tag war er in einem ruhigen
Zustand. Ich redete irgendetwas daher, dass er mit seinen Gefühlen im Irrtum sei,
sprach über all die Zeit, die wir zusammen verbracht hätten, was dazu geführt habe,
dass er sich auf mich verlasse, und dann, nachdem ich verwirrt herumgestottert hatte,
gingen mir die Sätze aus, aber er redete weiter: Ich liebe dich, weil wir uns gleichen. Wir sind nicht wie der Befehlshaber. Das war einer von Stefans Spitznamen für Boris. In angriffslustiger Stimmung
salutierte er manchmal vor seinem älteren Bruder. Schwester Leben, sagte Stefan, wandte mir das Gesicht
zu, nahm meine Wangen in die Hände und küsste mich
lange und fest, und ich ließ es geschehen, und es gefiel mir, und das hätte ich
nie gedurft, sagte ich zu Dr. S. Ehe Boris hereinkam, hatte ich Stefan gesagt,
dass wir das nicht dürften und dass es dumm gewesen sei, das ganze übliche Gefasel,
und er hatte so gekränkt ausgesehen. Und das bringt mich um. Schwester Schuld. Sein furchtbares totes Gesicht, sein
furchtbarer toter Körper.
    Ich wusste,
dass ich keine Schuld an Stefans Tod trug. Ich wusste, er musste in einem Moment
der Verzweiflung entschieden haben, dass er den Tiger nicht länger reiten wollte,
und trotzdem war ich nie imstande gewesen, unser Gespräch laut wiederzugeben, die
Worte in diese offenen Felder unter dem weiten Himmel hinaus zu sagen. Während
ich mich reden hörte, wurde mir klar, dass sich Stefan, als er unsere gemeinsame
Schwäche für und Wut auf den Großen Boris verkündet hatte, mit einem Kuss an mich
gefesselt hatte. Es war nicht der Kuss als solcher, der mich beschämt und zum Schweigen
gebracht hatte, sondern das, was ich in Stefan gespürt hatte, seine Eifersucht
und Rache, und das war es, was mich erschreckte, nicht weil die Gefühle zu Stefan
gehörten, sondern weil sie auch zu mir gehörten. Der kleine Bruder. Die Ehefrau.
Die beiden, die an zweiter Stelle kamen.
    «Aber Sie und
Stefan waren nicht gleich», sagte Dr. S. nicht lange bevor wir auflegten.
    Nicht gleich.
Verschieden.
    «Im Krankenhaus
habe ich mich wie Stefan gefühlt.»
    «Aber Mia»,
sagte Dr. S., «Sie leben, und Sie wollen leben. Soweit ich es beurteilen kann, bricht
Ihr Lebenswille aus allen Poren hervor.»
    Schwester Leben.
    Ich hörte mir
eine Weile beim Atmen zu. Ich hörte Dr. S. durchs Telefon atmen. Ja, dachte ich.
Aus allen Poren. Das gefiel mir. Ich sagte ihr das. Wir sind so seltsame Geschöpfe,
wir Menschen. Etwas war geschehen. Etwas hatte sich beim Erzählen gelöst.
    «Wenn ich jetzt
bei Ihnen wäre», sagte ich, «würde ich auf Ihren Schoß springen und Sie fest drücken.»
    «Das wäre ein
ziemlicher Armvoll», sagte Dr. S.
    Etwa zur selben
Zeit, ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen davor oder danach, fanden die folgenden
Ereignisse jenseits meines unmittelbaren phänomenalen Bewusstseins statt, wenn
auch nicht notwendigerweise in der hier dargestellten Reihenfolge. Sie können nicht
von mir entwirrt werden oder vielleicht von niemandem, deshalb in medias res:
    Meine Mutter
liest zur Vorbereitung des Lesezirkels am 15. August in der Rolling Meadows Lounge
zum dritten Mal Überredung. Für diese Aufgabe
nimmt sie eine äußerst bequeme Position ein. Sie liegt mit drei Kissen im Rücken,
einer weichen Halskrause zur Dämpfung der stechenden arthritischen Schmerzen, einer
Wärmflasche für ihre kalten Füße, einer Lesebrille auf der Nase, um die Buchstaben
scharf zu sehen, und einem sonderangefertigten Bettlesepult, das das Buch aufrecht
hält, und taucht in das Leben von Menschen ein, die sie gut kennt, vor allem Anne
Elliot, die meine Mutter, Bea und ich alle lieben und über die wir uns unterhalten,
als wäre Kellylynch Hall gleich nebenan und als würde die liebe, lange leidende,
vernünftige alte Anne jeden Augenblick an die Tür klopfen.
     
    Pete und Lola
streiten sich, häufig.
     
    Daisy, die
immer noch jeden Abend im Theater die Muriel ist, wird nach der Vorstellung Daisy
die Detektivin und folgt ihrem sphinxhaften Vater quer durch die Stadt. Der Mann
hat mit langen nächtlichen Wanderungen angefangen, deren Sinn sie nicht versteht.
Ihrem Charakter getreu legt Daisy für ihre nächtlichen Spürnasenexkursionen extravagante
Kostüme an, die sie mir (obwohl ich zu der Zeit nichts davon oder von ihrem Leben
als Spionin weiß) eher mehr als weniger auffallend zu machen scheinen: Groucho-Marx-Brille,
-Augenbrauen, -Nase

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