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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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ihren
Brauen, und ihr Mund verkrampfte sich zu einem dünnen, geraden Strich, aber sie
weinte nicht. Mütterliches Zuhören ist von besonderer Art. Die Mutter muss zuhören,
und sie muss mitfühlen, aber sie darf sich nicht vollständig mit dem Kind identifizieren.
Das erfordert eine erzwungene Zurücknahme, eine Distanz, die nur erreicht wird,
indem sie sich gegen die gerade erzählte Geschichte stählt. Das Wissen: Sie haben meinem Kind weh getan, kann leicht eine brachiale Reaktion
hervorrufen, etwas in der Art von Ich werde diese
kleinen Flittchen in tausend Stücke zerreißen und zum Nachtisch verschlingen. Als ich Ellen
beobachtete, spürte ich, dass sie dem Wunsch nach grausiger Rache widerstand, und
mir wurde bewusst, dass ich sie mochte — sowohl wegen ihrer Wut als auch wegen ihrer
Fähigkeit, sie zu bezähmen.
    Alice hatte
schon seit einiger Zeit gemeine Nachrichten bekommen. «Schlampe» und «Nutte» gingen
regelmäßig als SMS ein, wie auch die hochgradig originellen Kommentare «Du hältst
dich wohl für schlau», «Geh doch zurück nach Chicago, wenn's da so toll ist», «Hässliche
Schnalle», «Komische Magerzicke» und «Angeberin». Alles anonym. Was meine Ränke
schmiedenden Dichtermädels anging, so gab Alice zu, dass sie mal für und mal gegen
sie waren, an einem Tag zutraulich, am nächsten kalt. Sie ließen sie an sich heran
und stießen sie dann weg. Als sie sich ihnen nach wochenlangem Kummer mit der unverhüllten
Frage «Was habe ich denn getan?» entgegenstellte, kicherten sie, verdrehten die
Augen und riefen wieder und wieder im Sprechchor: «Was habe ich denn getan?» Es
schmerzte mich besonders, mir Peyton unter den Quälgeistern vorzustellen. Dann waren
Fotos einer nackten Alice zu Hause vor ihrem eigenen Spiegel bei Facebook eingestellt
worden - verschwommene Bilder, mit dem Handy der Spionin durch einen Spalt im Rollladen
aufgenommen. Die arme Kleine schniefte heftig, als sie mit dieser Erniedrigung herausrückte.
Sie hatte die Bilder natürlich herausgenommen, aber da war der Schaden schon angerichtet.
Eingedenk meines sich verändernden Körpers mit dreizehn und des schmerzhaft intimen,
beschützenden Gefühls, das ich für meine neuerdings geschwollenen Brüste, drei
Schamhaare und die geheimnisvollen roten Linien entwickelt hatte, die auf meinen
Hüften auftauchten (und, wie ich erst zwei Jahre später herausfand, Wachstumsstreifen
waren), krümmte ich mich vor Unbehagen. Die Geschichte vom blutigen Kleenex war
verworren, aber schließlich verstanden Ellen und ich, dass Alice unmittelbar vor
meinem Kurs ihre Periode bekommen, nichts dabeigehabt hatte und zu schüchtern gewesen
war, eine ihrer «Freundinnen» nach einer Binde zu fragen. Sie hatte ihre Unterhose
mit Kleenex ausgepolstert, die sie in ihrer Tasche hatte (immer zur Hand wegen
ihrer Allergien), aber als sie in den Klassenraum ging, war ein leicht blutiges
Taschentuch aus ihren Shorts gerutscht und auf den Boden gefallen, von wo Ashley
es sofort aufgehoben, auf das Pult geworfen und angefangen hatte, das Wort ekelhaft zu kreischen, indem sie so tat, als begreife sie erst
jetzt, was sie da angefasst hatte. Beim letzten Streich, dem, der zu den Magenschmerzen
geführt haben musste, ging es um die Nachricht von dem begehrten Jungen, Zack, der
sich mit ihr um drei im Park bei den Schaukeln verabredet hatte. Dorthin war Alice
wohl unterwegs gewesen, als ich sie nach dem Unterricht um Viertel vor drei den
Bürgersteig entlanghüpfen sah. Als sie dort ankam, war kein Zack da. Eine halbe
Stunde hatte sie gewartet und sich dann, als ihr klarwurde, dass etwas faul war,
ins Gras gesetzt, die Hände vors Gesicht geschlagen und geweint. Als die Tränen
kamen, drang auch das Johlen und Gelächter hinter einem um den Park laufenden hohen
Zaun zu ihr. Die spottenden unsichtbaren Mädchen beschimpften Alice, weil sie zu
träumen gewagt hatte, ein Junge wie Zack würde sie auch nur ansehen. Das war anscheinend
der letzte «Spaß», der, den Alice nicht hatte «vertragen» können.
    Ungeachtet
der Einzelheiten ist Alice' Geschichte deprimierend vertraut. In ihrer Grundstruktur,
mannigfach variiert, wiederholt sie sich ständig und überall. Wenn auch gelegentlich
offen, sind die Grausamkeiten meistens versteckte, verstohlene Tiefschläge, um das
Opfer zu beschämen und zu kränken — eine Strategie, die sehr oft von Mädchen angewandt
wird, nicht von Jungen, die direkter zuschlagen oder boxen oder zwischen die Beine
treten. Das Duell

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