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Hustvedt, Siri

Hustvedt, Siri

Titel: Hustvedt, Siri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Sommer ohne Maenner
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roten Stühlchen saßen und Werbesongs sangen, keine wirklichen Werbesongs,
sondern erfundene, über Zahnpasta, die aus der Tube spritzt, und Waschpulver, das
die Kleider grün wäscht, und Bonbons, die in der Hand und nicht im Mund schmelzen.
Wir erinnerten uns an unsere blauen Kleider mit Schürzchen und an unsere Lackschuhe,
die mit Vaseline glänzten, und dass wir unsere Knie zusammenpressten und die Hände
im Schoß falteten und sehr, sehr brav waren. Wir erinnerten uns an Mamas bestickten
Adventskalender und die winzigen verpackten Geschenke, die an jedem Tag im Dezember
darin auftauchten, und daran, dass wir vor Vorfreude auf Weihnachten Bauchschmerzen
hatten. Und wir erinnerten uns an das Baden. Wir hielten uns einen Waschlappen über
die Augen, damit keine Seife hineinkam, und beugten uns nach hinten, und Mama goss
uns aus einer Kanne Wasser über den Kopf, und sie wärmte Handtücher im Trockner
vor und wickelte uns in warmes Frottee, und dann hob Vater uns, eine nach der anderen,
hoch in seine Arme und setzte uns in einen Sessel vor dem offenen Feuer, um uns
warm zu halten. Baden war das Paradies, sagte Bea. Das ist wahr, sagte ich, und dann erzählte sie mir,
sie habe sich, wenn wir spät von den Großeltern zurückkamen, im Auto immer schlafend
gestellt, damit Vater sie ins Haus trug, und ich sagte ihr, ich hätte gewusst, dass
sie nur so tat, und sei eifersüchtig gewesen, weil ich zu groß war, und hätte manchmal
befürchtet, er liebe sie mehr. Ich war eine Heulsuse und Bea nicht. Du bist immer noch eine Heulsuse, sagte sie. Wie wahr, sagte ich. Vielleicht, sagte meine
Schwester, hätte ich mehr weinen sollen. Ich musste
immer so stark sein. Danach waren wir still.
    Tut mir leid, dass ich so ein Waschlappen war, Bea.
    Komm, wir schlafen, sagte sie, und ich sagte ja, und das taten wir, und ich nahm keine Tablette und schlief
ausgezeichnet.
     
    Wie soll ich
es erzählen?, fragt Ihre traurige, hirnrissige Heulsuse von Erzählerin. Wie soll
ich es erzählen? Von hier an wird es ein bisschen voll — es gibt simultane Ereignisse
-, eine Sache passiert in Rolling Meadows, eine andere im Kulturforum, wieder eine
andere im Nachbarhaus; ganz zu schweigen von meinem Boris, der mit meiner besorgten
Daisy auf den Fersen durch die Straßen von New York wandert - all das will behandelt
werden. Und wir alle wissen, dass Simultaneität für Worte ein grosses Problem ist.
Sie kommen der Reihe nach, immer nur der Reihe nach, daher will ich, während ich
es auseinandersortiere, auf Dr. Johnson verweisen. Ein Verweis auf Dr. Samuel Johnson
ist im Notfall immer ein guter Tipp - unser Fachmann für die englische Sprache,
unser weiser, fetter, gichtkranker, skrofulöser, gutherziger, geistreicher Vielfraß,
eine Autorität, an die wir alle uns in schwierigen Momenten wenden können, ein kultureller
Paterfamilias, der so bedeutend war, dass er schon zu seinen Lebzeiten Aufzeichnungen
über sich machen ließ. Und das war im 18. Jahrhundert, lange bevor Tom, Dick, Harry,
Lila und Jane jede geschmacklose, idiotische Einzelheit ihres armseligen Lebens
im Internet festhielten. (Bitte beachten Sie den Zusatz Lila und Jane; es gibt kein
weibliches Äquivalent zu «Tom, Dick und Harry», die im Englischen Jedermann suggerieren;
mit Jedefrau ist es leider völlig anders.) Die Grub Street jedoch sonderte damals
zur großen Bestürzung von Dr. Johnson unzählige, auch falsche Bekenntnisse ab,
die genauso reißerisch und haarsträubend waren wie die heutigen Kummer-und-Leid-Memoiren.
Doch genug davon. Wir zitieren aus Rasselas, Prinz
von Abyssinien eine Passage über die Ehe, in der unser Held seine Einschätzung
des Sakraments zum Besten gibt.
     
    Gewöhnlich
geht eine Eheschließung so vor sich. Ein junger Mann und ein Mädchen, die sich zufällig
begegnen oder absichtlich zusammengeführt wurden, tauschen Blicke aus, sagen sich
Artigkeiten, gehen nach Hause und träumen voneinander. Und weil sie nur wenig ablenkt
und zerstreut, fühlen sie sich unzufrieden, wenn sie getrennt sind, und kommen
daher zu dem Schluß, daß sie zusammen glücklich sein werden. Sie heiraten und erkennen,
was nur freiwillige Blindheit ihnen vorher verborgen hat; sie verbringen das Leben
in Zank und bezichtigen die Natur der Grausamkeit.
     
    Nicht-wissen-Wollen
verschleiert die düstere Realität: Du denkst, ich bin an dich gefesselt? Aber heute
ist es anders, sagt die schlaue Leserin. Das war früher mal. Wir sind aufgeklärter
als die Aufklärung, wir im

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