Hybrid
dem ich kaum etwas anrührte, konnte ich wieder etwas klarer denken und erkundigte mich, ob die anderen am Fluss etwas erkannt hatten.
Christian, der neben mir saß, sagte, sie hätten die Leiche herausgeholt und wollten sie noch untersuchen, bevor die Polizei aus Manaus kam, der sie den Vorfall gemeldet hatten. Als er fragte, ob ich Lust hätte, sie mir anzugucken, war mein erster Impuls »Mein Gott, nein!«, aber irgendwie ließ mich der Gedanke danach nicht mehr los. Ich überlegte, ob es mir nicht helfen würde, mein Erlebnis zu überwinden, wenn ich dem albtraumhaften Objekt nun noch einmal, vorbereitet, auf neutralem Boden und gemeinsam mit anderen Ärzten gegenübertreten würde. Und schließlich bin ich ja selbst mehr oder weniger Ärztin, und die Karriere mit einem solchen Trauma im Gepäck zu beginnen, ist sicherlich keine gute Idee.
Also habe ich Christian am Nachmittag noch einmal angesprochen, als er gerade mit seiner Visite fertig war. Gemeinsam sind wir in den Lagerraum neben dem Generatorhäuschen gegangen.
Elvira kam gerade mit einem Mundtuch und zwei leeren Eimern aus dem Lager. Christian und ich gingen hinein.
Für ein so abgelegenes Camp der Ärzte ohne Grenzen ist es ein Luxus, gemauerte Räume mit Türen und Wellblechdächern zur Verfügung zu haben, die der Regenzeit standhalten können. Aber dieser Lagerraum wird selten verwendet, weil der Gestank des Diesels von nebenan die meiste Zeit herüberzieht und sich in allem, was hier gelagert wird, festsetzt. Heute war ich froh über den vertrauten Geruch nach Maschinenraum und Tankstelle. Üblicherweise macht er die schwül-heiße Luft des Regenwaldes noch unerträglicher, nun aber war er etwas, an dem man sich festhalten konnte, eine Verankerung in der Normalität, ein Parfum der Sachlichkeit.
In der Mitte des Raums haben sie einen Tisch aufgebaut, auf dem die Leiche liegt. Sie ist mit schweren Tüchern bedeckt, die von Elvira und einigen anderen der Indios regelmäßig mit Wasser übergossen und getränkt werden. Ich bemerkte, dass sich unter dem Tisch eine stinkende Pfütze gesammelt hat, denn was von oben herabtropft, ist nur zum Teil das von den Tüchern aufgesaugte Wasser; es ist gemischt mit anderen Sekreten, die dem faulenden Leichnam entrinnen. Neben dem Tisch stehen zwei Standventilatoren, die mit größter Kraft über das Konstrukt blasen, um so ein wenig Verdunstungskälte zu erzeugen und alle Gerüche aus den geöffneten Fenstern hinauszupusten. Wir haben nur zwei Kühltruhen hier im Camp, und die sind natürlich für die Medikamente gedacht. Außerdem wären sie zu klein. Eine ganze Leiche – auch in Einzelteilen – können wir nicht aufbewahren. Aber bei dreißig Grad im Schatten und einer Luftfeuchtigkeit von über neunzig Prozent muss man sich etwas einfallen lassen, wenn man totes Fleisch und Eingeweide vor dem weiteren Verwesen bewahren soll, bis die Polizei ein oder zwei Tage später eintrifft. Falls sie überhaupt kommt.
Mehr als ein paar Grad kann der Aufbau den Körper nicht abkühlen, und die Ventilatoren sorgen dafür, dass der faulige Gestank im ganzen Raum herumgewirbelt wird.
Ich tat einen Schritt zurück.
Christian nickte und sagte, es sei in der Tat ziemlich unangenehm, aber sehr interessant und die beste Chance, etwas zu lernen.
Ich versuchte, mich auf Christian zu konzentrieren, mein Studium, meine Bücher. Ich wollte nicht ergründen, warum die Fäulnis etwas Süßliches an sich hatte und ob ich eher etwas Käsiges oder Säuerliches herausriechen konnte. Aber jene entsetzlichen Dünste, die den verrottenden Eingeweiden der verdeckten Leiche entstiegen waren, wanden und bohrten sich unbarmherzig durch meine Nase in mein Hirn, verdrängten alles andere. Rationale Gedanken waren unmöglich. Ich erstarrte nahezu. Nicht umsonst ist das olfaktorische System durch Hypothalamus und Hippocampus direkt mit Erinnerungen und Emotionen verbunden. Die Natur sorgt dafür, dass die Präsenz des Todes unmittelbar zu spüren ist, sämtliche vegetativen Alarmsensoren melden akute Lebensgefahr, das Rückenmark lädt sich funkensprühend elektrisch auf wie eine gigantische Spule, Millionen Impulse rasen durch den Körper, alle Muskeln bereiten sich in panischer Todesangst auf Flucht oder Totalausfall vor.
Ungeachtet der Urwaldhitze fühlte ich, wie sich eine Eiseskälte in mir ausbreitete, so als würde mir Kleidung und Haut vom Leib gerissen werden und als liefe eisiger Sirup über meinen Rücken.
Christian trat schnell
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