Hymne an Die Nacht
genug hatte und sich wenigstens auf der Leinwand in einer Welt wiederfinden wollte, die damit nichts zu tun hatte.
Doch die Nachwuchsfilmer wurden auf den Festivals zunehmend beachtet, und nachdem Vadim in einem dieser ambitionierten Projekte mitgespielt hatte, war es sofort mit einem Preis gewürdigt worden. Vadim hatte von einem »Experiment« gesprochen, man müsse den Jungen auch mal eine Chance geben, hatte er gesagt und zugleich durchblicken lassen, dass er nur aus alter Verbundenheit zu Radu in dessen Vampirfilm mitwirke. Und weil das Publikum es offenbar noch immer so wolle.
»Was nun?« Maria betrachtete ihn besorgt.
»Keine Angst, du wirst deinen Job behalten. Und jetzt …«
»Er kommt«, murmelte Maria, »ich verzieh mich.«
Während sie rasch in einer der Kulissen verschwand, sah Radu der Gestalt entgegen, die sich gemächlich näherte. Die Mitarbeiter im Studio schienen in Deckung zu gehen, doch Vadim winkte von weitem, blieb bei einem der Beleuchter stehen, plauderte kurz mit ihm und scherzte danach mit dem Kameramann. Als er nur noch wenige Meter von Nicolescu entfernt war, breitete er die Arme aus: »Da ist ja mein Lieblingsregisseur! Jetzt lass uns anfangen, Radu, ich kann es kaum erwarten. Ich hab es dir doch versprochen: Wir werden einen richtig guten Film zusammen machen.«
Radu Nicolescu seufzte erneut. Für jeden unvoreingenommenen Betrachter war Vadim die vollkommene Verkörperung eines männlichen Ideals: groß, breitschultrig, dabei schmal in den Hüften, das halblange Haar dunkel und kräftig, die Gesichtszüge ebenmäßig, ohne gefällig zu wirken.
Er wäre auch gut in der Rolle des Dorian Gray, kam es dem Regisseur in den Sinn, jener von Oscar Wilde erdachten Figur, deren jugendliche Schönheit sich auf dem Gemälde, das ein Maler von ihr geschaffen hat, allmählich zu einer verwüsteten Fratze wandelt, während der reale Dorian trotz seiner verbrecherischen Existenz äußerlich unverändert bleibt. In einem Remake wäre Vadim als Dorian zweifellos grandios, doch schon der Gedanke an eine erneute Zusammenarbeit mit ihm ließ Nicolescu schaudern.
Unbeeindruckt von den schmeichlerischen Worten seines Hauptdarstellers sagte er: »Du bist um Stunden zu spät am Set, und diesmal reicht es mir. Wenn sich das noch einmal wiederholt, steige ich aus.«
Dabei wusste er genau, dass er sich das finanziell nicht leisten konnte.
»Ist ja gut, Radu«, sagte Vadim in beschwichtigendem Ton. »Ich war heute Morgen nicht so recht in Form, tut mir leid. Jetzt bin ich zu allen Schandtaten bereit.«
Er sah Nicolescu mit dem Lächeln an, dem Millionen von Zuschauern verfallen waren. Der Regisseur wusste, welche Wirkung von den saphirblauen Augen ausging und von dem funkelnden kleinen Licht darin. Ihr werdet nie wissen, wer ich wirklich bin, schienen diese Augen zu sagen, ich kann in jeder Farbe schillern. Um die vollen, perfekt geschwungenen Lippen hatten sich winzige Grübchen gebildet, in denen sich eine Andeutung schalkhafter Ironie spiegelte.
Vadim schüttelte seine Mähne wie ein ungestümes Wildpferd, hob die Arme mit geöffneten Handflächen gen Himmel und ließ sie langsam wieder sinken. »Vertrau mir«, raunte er mit samtener Stimme, und dann, in anschwellender Lautstärke: »Du wirst sehen, Radu, ich bin Wachs in deiner Hand. Erschaffe mich neu, forme mich, bringe mich zum Leuchten, lass mich der sein, der ich schon immer sein wollte! Nur du bist dazu imstande!«
Die Umstehenden, die diese Szene verfolgt hatten, hielten den Atem an. Das war echtes Kino.
»Dann schlage ich vor, dass du jetzt wieder in die Maske gehst«, erwiderte Nicolescu trocken, »und wenn sie dort mit dir fertig sind, können wir hier endlich anfangen. Und noch etwas: lass die Finger von Maria.«
Bevor Vadim Gelegenheit hatte, darauf zu antworten, verließ Nicolescu den Drehort. Er brauchte frische Luft.
Achselzuckend wandte Vadim sich um.
Sechs
Hinter der Grenze hatten Stanislaw und Igor auf der rumänischen Seite noch eine lange Fahrt vor sich. Es war inzwischen früher Abend, und bis zur Ankunft in Bukarest lagen viele weitere Stunden vor ihnen. Zwischendurch hatte Stanislaw versucht, Daphne zu erreichen, die ihm nach ihrer Ankunft in Zürich eine SMS geschickt hatte:
Bin gut gelandet, bleibe aber auf der Hut. Denke sehr an Dich und hoffe auf baldige Nachricht von Dir. In Liebe, die Deine
Ja, sie war die Seine, seine zärtliche, hingebungsvolle Daphne. Er sah das harmonische Oval ihrer Züge vor sich, die
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