Hymne an Die Nacht
Lippen die salzige Flüssigkeit weg, die jetzt noch immer aus ihren Augen rann.
»Lasst uns gehen«, sagte Stanislaw leise, »es ist vorbei.« Er trat zur Tür und öffnete sie. Eine scharfe Windböe drang von draußen in den Raum, erfasste Kyrills Asche und verwehte sie in alle Richtungen.
Schweigend verließen sie die Burg. Stanislaw ging voran, gefolgt von Igor. Vadim hielt Joannas Hand mit festem Griff. Sie wandten sich noch einmal um, um die Ruine zu betrachten, in der alles seinen Anfang gefunden hatte. Hier, das wussten sie, endete etwas, und etwas Neues würde beginnen.
Stanislaw sah die beiden an. »Reicht mir eure Hände.«
Joanna und Vadim verstanden und legten ihre Hände in die seinen, und sie fühlten diese Handflächen, die nie richtig warm werden konnten.
»Gib auf sie acht, Vadim«, sagte Stanislaw und merkte, wie das Sprechen ihn auf einmal anstrengte, »sie gehört in deine Welt, nicht in meine. Sie ist eine sehr starke junge Frau, die gut für sich selbst sorgen kann, doch das gilt nicht für ihr Herz.«
Joannas Blick wollte ihn nicht loslassen, als er langsam, sehr langsam, seine Hände löste, und auch Vadim konnte die Augen nicht von Stanislaw wenden. Fragend sah er ihn an.
»Du willst wissen, was ich dir auf euren Weg mitgebe?« Stanislaw schlug seinen langen Mantel um sich. »Wenn ein so alter Vampir wie ich vor etwas kapitulieren musste, das stärker ist als die Finsternis, in die ich vor langer Zeit verdammt wurde, wirst auch du die Antwort finden, Vadim. Wenn du willst … und wenn du kannst.«
Stanislaw zog Joanna an sich. Nachdem sie sich eine Weile umschlungen gehalten hatten, flüsterte er ihr etwas ins Ohr, und sie lächelte. Als sie sich langsam voneinander lösten, spürte sie, dass Igor den struppigen Kopf dicht an sie gepresst hatte.
Mit einer raschen Drehung hockte sie sich vor ihm in den Schnee. Ihre Hände zogen ihn zu sich heran, strichen durch sein Fell, und sie schmiegte ihr Gesicht hinein, um noch einmal den vertrauten Geruch einzuatmen.
Stanislaw hatte die Autotür geöffnet. Igor sprang auf den Rücksitz, und sein Herr stieg vorne ein. Der Motor wurde angelassen, und der Geländewagen fuhr los.
Vadim trat auf Joanna zu und legte den Arm um ihre Schultern. »Wohin will er denn jetzt?«, fragte er verwundert.
»Nach Hause«, sagte sie und blickte dem Wagen nach, dessen Umrisse sich im Schneegestöber verloren, bis sie im Dunkel verschwunden waren.
Sie schmiegte sich eng an Vadim und fühlte ihr Herz schlagen.
Über Sylvia Madsack
Foto: Alberto Venzago
Sylvia Madsack wurde in Hannover geboren, studierte Psychologie, arbeitete als Journalistin und übersetzte für verschiedene Buchverlage aus dem Französischen und Englischen. 1993 siedelte sie von München nach Zürich über, wo sie heute als freie Autorin lebt. 2008 erschien der erste Graf-Stanislaw-Roman
Melodie der Nacht,
dem 2010
Tausend Augen hat die Nacht
folgte.
Impressum
Copyright © 2014 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Covergestaltung: Katja Maasböl, Hamburg
Coverabbildung: plainpicture/ BY
ISBN 978-3-455-81257-2
Unsere Homepage finden Sie im Internet unter: www.hoca.de
www.facebook.com/Hoffmann.und.Campe.Verlag
www.twitter.com/HoCaHamburg
Weitere Kostenlose Bücher