Hymne an Die Nacht
wahrscheinlich.«
Erneut lächelte der Mann mit dem Totenkopfgesicht, und es war kein schönes Lächeln. »Stanislaw hat sich unter unseresgleichen in letzter Zeit nicht sehr beliebt gemacht.«
Beide taten, als würden sie eine Weile ihren Gedanken nachhängen, bis Kyrill betont gleichmütig die Worte hinwarf: »Er ist verschwunden … und seine Tochter ebenso.«
»Sie meinen die liebreizende Joanna, die Ihnen so sehr den Verstand geraubt hat?«
Kyrill sah sich in die Enge getrieben. Gab es irgendetwas, das vor diesem offenbar allwissenden Sergio verborgen geblieben war? Er fühlte sich bloßgestellt, doch zugleich sagte ihm sein Instinkt, dass er gut daran tat, auf diese Provokation nicht vorschnell zu reagieren. Er sollte recht behalten.
»Sie wollen wissen, wo Stanislaw und Joanna sind?« Ein lauernder Ausdruck trat in seine Augen.
Kyrill starrte ihn an.
»Ich kann Ihnen nur so viel verraten: sie wird bald dort sein, wo sie hingehört.« Der Fremde trank sein Glas leer. »Danke für die Erfrischung, Kyrill. Ich habe sie sehr genossen.« Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf, hob die Hand zum Gruß und stieg gemächlich die Treppe hinauf.
Kyrill blickte ihm nach, bis er außer Sichtweite war. Dann klatschte er in die Hände, worauf der bleiche junge Mann wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte. »Du kannst abräumen. Ich gehe nach oben ins Büro.«
*
Kyrill sank auf den Sessel hinter seinem Schreibtisch.
Der Totenkopfmann hatte ausgesprochen, was in der Vampirgemeinschaft an der Küste alle beschäftigte: Stanislaw hatte sich an seinesgleichen versündigt, er war zum Verräter geworden.
Eine Sterbliche aufgrund der unverständlichen Aufwallung vermeintlicher Liebesgefühle zu verschonen, war eine Sache und schlimm genug für einen Vampir. Sie von seinem eigenen Blut trinken zu lassen, damit sie den Angriff eines anderen Vampirs überlebte, war ein unverzeihliches Sakrileg.
Als Stanislaw sich vor den anderen rechtfertigen sollte, waren sie durch seine pathetischen Worte zunächst beeindruckt worden, aber von nun an würde er auf ewig ein Ausgestoßener bleiben. Und Joannas dramatischer Auftritt an jenem Abend war für Kyrill nichts als Theaterdonner gewesen.
Er trat ans Fenster und blickte auf den Hafen von Puerto Banus. Mit seiner Diskothek »Dark Side« hatte er dort in den letzten Jahren viel Geld verdient und gleichzeitig auch viel Spaß gehabt, denn das, was die Menschen hier wie einen Sport betrieben, dieses ausgelassene, sorglose Feiern, als gebe es kein Morgen, lag ihm ohnehin im Blut, das war sein Element.
Mit seinen hundertfünfzig Jahren war Kyrill ein junger Vampir, der sich an Erfahrung und Wissen mit den meisten Artgenossen, die an dieser Küste gestrandet waren, nicht messen konnte. Aber das war nicht das Einzige, was ihn unterschied. Verglichen mit diesen düsteren Geschöpfen brachte er ein eher leichtfüßiges Naturell mit, das ihm auch dann nicht verloren gegangen war, als ihn eine unerwartete Begegnung in ein Wesen der Nacht verwandelt hatte.
In einer Zeit, als es in der Ukraine noch die Leibeigenschaft gegeben hatte, war er ein einfacher Bauernbub gewesen, ohne Rechte und ohne eine Chance, diesem Dasein zu entfliehen. Zum Vampir geworden, hatte er endlich all das entfalten können, was in ihm steckte, und die neu gewonnene Macht sofort zielstrebig eingesetzt.
Inzwischen galt er bei den Sterblichen als vermögender, einflussreicher Geschäftsmann, der nebenbei als Hobby einen Nachtclub betrieb. Geld spielte keine Rolle, Kyrill verfügte längst über Quellen, die nicht versiegen würden, weil er sie in einer Weise kontrollieren konnte, wie das einem sterblichen Menschen niemals möglich wäre. Er wusste meist im Voraus, was an den Börsen passieren würde, und durch ein international operierendes Netzwerk manipulierte er erfolgreich die Entwicklung der Finanzmärkte.
Ja, er hatte es geschafft, er war dort angekommen, wohin es ihn immer getrieben hatte. Die schönsten Frauen waren ihm ergeben, stets zu seinen Diensten, stets begierig, sich zumindest eine Zeitlang in seinem Glanz sonnen zu dürfen. Diejenigen, die seine Opfer wurden, und das waren viele, hatte sein treuer Diener Heinrich hinterher diskret entsorgt, aber Heinrich war nun leider seinerseits Opfer von diesem Monsterhund Igor geworden, den Stanislaw auf ihn angesetzt hatte.
Kyrill wandte den Blick vom Hafen ab und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Hätte er nur nicht dieses Mädchen kennengelernt,
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