Hyperspace: eine Reise durch den Hyperraum und die zehnte Dimension ; [Einsteins Rache]
unerträgliche Arroganz der wissenschaftlichen Eiferer, in denen sie die Hauptfeinde des schöpferischen Prozesses erblicken.
Für die Avantgarde war die vierte Dimension eine willkommene Mehrzweckwaffe. Einerseits stieß diese Dimension an die Grenzen der modernen Naturwissenschaft. Sie erschien wissenschaftlicher als die Wissenschaftler selbst. Andererseits war sie geheimnisvoll. Mit der vierten Dimension konnte man den pedantischen, besserwisserischen Positivisten eins auswischen.
Abbildung 3.3. Eine Szene auf dem Wandteppich von Bayeux zeigt die erschrocke- nen englischen Truppen, die auf eine Himmelserscheinung zeigen (den Halleyschen Kometen). Die Figuren sind flach wie auf den meisten Bildern des Mittelalters. Das belegte Gottes Allmacht – eine Erklärung für die Zweidimensionalität aller Zeich- nungen der Zeit. (Giroudon/Art Resource)
Vor allem aber wurde die vierte Dimension zum Ansatzpunkt einer künstlerischen Revolte gegen die perspektivischen Gesetze.
Im Mittelalter zeichnete sich die religiöse Malerei durch einen absichtlichen Verzicht auf die Perspektive aus. Leibeigene, Bauern und Könige wurden flach dargestellt, wie in Kinderzeichnungen. In diesen Bildern spiegelte sich weitgehend die Auffassung der Kirche, daß Gott allmächtig sei und deshalb alle Bereiche unserer Welt gleichermaßen einsehen könne. Diese Auffassung hatte auch die Malerei widerzuspiegeln. Deshalb wurde die Welt zweidimensional gemalt. Beispielsweise sieht der Betrachter auf dem berühmten Bayeux-Teppich (Abbildung 3.3) die abergläubischen Soldaten König Harolds II. von England, wie sie in erschrockenem Staunen auf einen unheilvollen Kometen zeigen, der im April 1066 am Himmel erschien und sie zu der Überzeugung brachte, er sei ein Vorzeichen ihrer drohenden Niederlage. (Sechs Jahrhunderte später gab man diesem Himmelskörper den Namen Halleyscher Komet.) Und tatsächlich verlor Harold die entscheidende Schlacht von Hastings gegen Wilhelm den Eroberer, der zum
Abbildung 3.4. In der Renaissance entdeckten die Maler die dritte Dimension. Die Bilder wurden perspektivisch gemalt und zeigten die Welt aus dem Blickwinkel eines einzigen Auges, das nicht mehr das göttliche war. Wie deutlich zu erkennen, laufen alle Linien in Leonardo da Vincis Gemälde »Das Abendmahl« in einem Punkt am Horizont zusammen (Bettmann Archiv).
König von England gekrönt wurde, womit ein neues Kapitel der englischen Geschichte begann. Wie andere mittelalterliche Kunstwerke gibt der BayeuxTeppich die Arme und Gesichter von Harolds Soldaten flach wieder, als würde man ihre Körper mit einer Glasplatte gegen das Gewebe drücken.
Die Renaissance war ein Aufstand gegen diese flache, gottzentrierte Perspektive und der Beginn einer Kunstrichtung, in deren Mittelpunkt der Mensch stand, mit weiten Landschaften und realistischen, dreidimensionalen Menschen, die aus dem Blickwinkel des menschlichen Auges gemalt wurden. In Leonardo da Vincis wundervollen perspektivischen Studien sehen wir die Linien seiner Skizzen einem einzigen Punkt am Horizont zustreben. Die Malerei der Renaissance gibt wieder, wie das Auge die Welt sieht, das heißt, wie ein Betrachter sie von einem bestimmten Standpunkt aus wahrnimmt. In Michelangelos Fresken oder da Vincis Skizzenheft sehen wir die Gestalten kühn und eindrucksvoll aus der zweiten Dimension hervorspringen. Mit anderen Worten, die Renaissancekunst entdeckte die dritte Dimension (Abbildung 3.4).
Abbildung 3.5. Der Kubismus war stark von der vierten Dimension beeinflußt. Bei- spielsweise versuchte er, die Wirklichkeit mit den Augen eines vierdimensionalen Geschöpfes zu betrachten. Solch ein Wesen würde beim Anblick eines menschlichen Antlitzes alle Blickwinkel gleichzeitig wahrnehmen. Deshalb könnte ein vierdimen- sionales Geschöpf beide Augen zugleich sehen, wie Picassos Gemälde »Porträt von Dora Maar« zeigt (Giraudon/Art Resource, © 1 993 Ars, New York/Spadem, Paris). Mit dem Beginn des Maschinenzeitalters und des Kapitalismus empörte sich die künstlerische Welt gegen den kalten Materialismus, der die Industriegesellschaft zu beherrschen schien. Für die Kubisten war der Positivismus eine Zwangsjacke, die die Menschen auf das festlegen wollte, was sich im Labor messen ließ, und ihre Phantasie unterdrückte. Sie fragten: Wozu braucht die Kunst diesen sterilen »Realismus«? Die kubistische »Revolte gegen die Perspektive« bemächtigte sich der vierten Dimension, weil sie die dritte
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