Hyperspace: eine Reise durch den Hyperraum und die zehnte Dimension ; [Einsteins Rache]
Dimension aus allen denkbaren Perspektiven erfaßt. Fast könnte man sagen, die kubistische Kunst warf sich der vierten Dimension in die Arme.
Picassos Bilder sind ein schönes Beispiel dafür, denn sie zeigen eine entschiedene Ablehnung der Perspektive, wenn etwa Frauengesichter gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln dargestellt werden. Statt einen einzigen Standpunkt zu wählen, läßt Picasso in seinen Gemälden mehrere Perspektiven erkennen, als habe sie jemand aus der vierten Dimension gemalt, der in der Lage ist, alle Perspektiven gleichzeitig zu sehen (Abbildung 3.5).
Einmal wurde Picasso im Zug von einem Fremden angesprochen, der ihn erkannt hatte. Der Fremde beklagte sich: Warum er auf seinen Bildern die Menschen nicht so zeichnen könne, wie sie tatsächlich seien? Warum müsse er sie immer so entstellen? Daraufhin bat Picasso den Mann, ihm Bilder von seinen Angehörigen zu zeigen. Nach einem Blick auf die Schnappschüsse meinte Picasso: »Oh, ist Ihre Frau wirklich so klein und so flach?« Für Picasso hing jedes Bild, und mochte es noch so »realistisch« sein, von der Perspektive des Betrachters ab.
Abstrakte Künstler versuchen nicht nur, menschliche Gesichter so darzustellen, als habe sie ein vierdimensionales Geschöpf gemalt, sondern behandeln auch die Zeit als vierte Dimension. Auf Marcel Duchamps Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend sehen wir die verwischte Wiedergabe einer Frau, die durch eine unendliche Zahl einander in der Zeit überlagernder Bilder gezeigt wird, während sie die Treppe herabkommt. So sähe ein vierdimensionales Geschöpf die Menschen, wenn die vierte Dimension die Zeit wäre – das heißt, es nähme alle zeitlichen Abschnitte gleichzeitig wahr.
1937 faßte der Kunstkritiker Meyer Shapiro den Einfluß dieser neuen Geometrien auf die Kunstwelt folgendermaßen zusammen: »Wie die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie entscheidend zu der Auffassung beitrug, daß die Mathematik vom Dasein unabhängig sei, so räumte die
abstrakte Malerei gründlich mit den klassischen Vorstellungen von der künstlerischen Nachahmung auf.« Und die Kunsthistorikerin Linda Henderson meinte: »Die vierte Dimension und die nichteuklidische Geometrie gehören zu den wichtigsten Verbindungsgliedern zwischen moderner Kunst und Theorie.« 9
Die Bolschewiki und die vierte Dimension
Durch die Schriften des Mystikers P. D. Uspenski, der die russischen Intellektuellen mit den Geheimnissen der vierten Dimension bekannt machte, gelangte das neue Konzept auch ins zaristische Rußland. Sein Einfluß war so weitreichend, daß sogar Fjodor Dostojewski im Roman Die Brüder Karamasow seinen Protagonisten Iwan Karamasow in einem Gespräch, in dem es um die Existenz Gottes geht, über höhere Dimensionen und nichteuklidische Geometrien spekulieren läßt.
Infolge der historischen Ereignisse, die dann von Rußland Besitz ergriffen, sollte die vierte Dimension dann noch eine merkwürdige Rolle in der bolschewistischen Revolution spielen. Dieses eigenartige Zwischenspiel in der Wissenschaftsgeschichte ist noch heute von Bedeutung, weil sich Wladimir I. Lenin in die Debatte um die vierte Dimension einmischte und damit für die nächsten siebzig Jahre einen nachhaltigen Einfluß auf die Wissenschaft der einstigen Sowjetunion ausüben sollte. (Selbstverständlich hatten russische Physiker entscheidenden Anteil an der Entwicklung der zehndimensionalenTheorie in ihrer heutigen Form.)
Nachdem der Zar die Revolution von 1905 brutal niedergeschlagen hatte, bildete sich innerhalb der bolschewistischen Partei die Fraktion der »Gottbildner«, nach deren Auffassung die Bauern noch nicht reif für den Sozialismus waren. Um sie vorzubereiten, sollten sich die Bolschewiki mit religiösen und spiritistischen Lehren an sie wenden. Als Beleg für ihre ketzerischen Ansichten zogen die Gottbildner das Werk des deutschen Physikers und Philosophen Ernst Mach heran, der beredte Ausführungen über die vierte Dimension und die kürzlich erfolgte Entdeckung einer neuen, überirdischen Eigenschaft der Materie namens Radioaktivität gemacht hatte. Die Gottbildner wiesen daraufhin, daß die Entdeckung der Radioaktivität durch den französischen Wissenschaftler Henri Becquerel im Jahre 1896 und die Entdeckung des Radiums durch Marie Curie im selben Jahr in den literarischen Kreisen Frankreichs und Deutschlands eine heftige Debatte entfacht hatte. Offenbar konnte Materie langsam zerfallen, woraufhin
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