Ian Yery & der Hardcore Absolute Beginner
diesem hinterhältigen Betrüger direkt zu antworten. Für die treffende Formulierung ließ er sich Zeit, änderte sie immer wieder, pfriemelte ständig daran herum. Sie sollte deutlich sein, dabei aber freundlich bleiben, klar, aber nicht unhöflich. Nils wollte selbstsicher, jedoch nicht überheblich wirken, einen durch und durch souveränen Eindruck machen.
Nach zwei Wochen endlich war er der Ansicht, der Antworttext wäre nun perfekt, könnte nicht besser auf den Punkt bringen, worum es ihm ging. Doch als er die E-Mail absenden wollte, löschte er sie einem Impuls folgend und klopfte einen ganz anderen Text in die Tasten, in dem er sich von seiner Wut über die Unterstellung leiten ließ. Er sendete sie sofort ab ohne sie noch einmal durchzulesen – um es sich nicht doch nochmal anders zu überlegen.
Angriff
… Kriegserklärung …
„Hast du eine Zigarette für mich?“, schrie Mo. Er stand völlig aufgelöst in der Tür zu Stefans Zimmer und versuchte, das Kriegsgetöse zu übertönen. Rasch schaltete das Gebirgsmassiv von Mitbewohner die Lautsprecher ab, drehte sich langsam auf dem ächzenden Drehstuhl zu Mo herum und schmetterte ein überraschtes: „Wie bitte?“, durch die blauen Nebelfäden, die träge aneinander vorbeiwaberten.
„Hast du eine
Zigarette
für mich?“, wiederholte Mo die Frage und versteckte seine zitternden Hände hinter dem Rücken.
„
Du
bittest
mich
um eine Zigarette?“ Stefan versuchte, durch Schräglage des Kopfes die Forderung seines Mitbewohners sacken zu lassen.
„Und?
Hast
du?“, fragte Mo.
„Du bist Nichtraucher, schon vergessen? Du wirst sofort tot umfallen …“ Stefan begann, all die ätzenden Sprüche aufzuzählen, die Mo für gewöhnlich von sich gab, wenn das Thema Rauchen auf den Tisch kam.
„Vergiss es“, fauchte Mo, stieß sich vom Türrahmen ab und tappte wieder in sein Zimmer. Er begriff nicht, warum er
gar
so fertig war. Er hatte doch bloß eine E-Mail erhalten. Vor einigen Wochen hatte er eine Beschwerde an alle Adressen gesandt, die Stefan herausgesucht hatte.
Zunächst hatte er von diesem Plan sogar absehen wollen, doch dann war
es
losgegangen:
'Du siehst aus wie der eine Typ aus dem Computerspiel'.
Der Erste, der ihn darauf angesprochen hatte, war sein Arbeitskollege gewesen, der Zweite ein Stammkunde. Aktuell wurde er zwischen fünf und fünfzehn Mal am Tag mit dem Hinweis belästigt, wie Ian Yery auszusehen. Mittlerweile konnte er den Namen nicht mehr hören. Zwar war bisher keine einzige Bemerkung beleidigend oder gemein gewesen – im Gegenteil, die Leute schienen diesen Protagonisten richtiggehend zu verehren – aber es raubte Mo trotzdem den letzten Nerv.
Da die Designer des Spiels laut Stefan alle Amerikaner waren und daher kein Deutsch verstanden, hatte Mo die E-Mail in Englisch verfasst. Bereits in der Schule war er in Sprachen sehr schlecht gewesen. Englisch hatte er nur mit Ach und Krach bestanden und danach keinen Grund mehr gehabt, die Kenntnisse in dieser Sprache auszubauen. Nicht einmal für Spielfilme in Originalfassung – eine Affinität die Stefan und Judith teilten, er jedoch nicht nachvollziehen konnte. Nachdem die Reifeprüfung mittlerweile schon über ein Jahrzehnt zurücklag, war von seinen Englischkenntnissen nur noch ein trauriges Gerüst übriggeblieben, also hatte er sich mühsam mit Übersetzungsprogrammen und einem Wörterbuch helfen müssen.
Natürlich hätte er auch Stefan, Judith oder einen seiner Kollegen bitten können ihm zu helfen, aber Mo schämte sich für seine lauen Englischkenntnisse. Sogar die meisten Schüler der Unterstufe beherrschten diese Sprache besser, als er.
Welchen Weg seine E-Mail in den vergangenen Wochen auch immer gegangen war, nun hatte er eine Antwort darauf erhalten. In perfektem Deutsch. Zunächst hatte Mo geglaubt, man hätte eine Übersetzungsagentur oder dergleichen beauftragt – aber dazu war der Text zu emotional verfasst, hatte zu viele Flüchtigkeitsfehler. Der Tonfall des Verfassers war rüde, regelrecht angepisst, und er hatte, wie es schien, Mos Beschwerde völlig falsch aufgefasst. Der mutmaßliche Designer von Ian Yery faselte etwas davon, Mo zu verklagen, sollte dieser mit solchen hanebüchenen Diffamierungen auch noch an die Öffentlichkeit gehen. Er allein sei der Urheber dieses Spielecharakters und kein hinterhältiger Betrüger (damit meinte er wohl Mo) hätte das Recht, Ansprüche darauf zu erheben. Es war sicher bloß ein dummes Missverständnis – das
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