Ice
schlimmer geht.
»Sie werden alle dieses Gas einatmen?«, frage ich möglichst gleichgültig.
»Nicht alle, etwa zweihundert Männer und Frauen werden soeben evakuiert und in den Schutzbunker gebracht. Ärzte, Forscher, loyale Anhänger unserer Sache. Wir können schließlich nicht den Verstand aller Menschen zerstören, wir brauchen unsere klugen Köpfe, da wir nicht genau wissen, was das Gas auf lange Sicht für Schäden auslösen wird.«
»Bunker?« Ich versuche, weiterzuatmen. Die Ratsmitglieder sind skrupelloser, als ich mir je in meinen finstersten Überlegungen ausgemalt habe.
»Ja, unter dem großen Turm, dort komme ich eben her. Da werden die anderen den Gasangriff aussitzen. Aber ich habe beschlossen, solange Stephen zu besuchen. Ich habe ohnehin genug mit ihm zu besprechen.«
»Das ist ein gewaltiges Vorhaben«, sage ich möglichst begeistert.
»Ja, und wenn alles glattgeht, können wir unsere Warrior mit der Armee aus New World City nach Resur schicken, ohne befürchten zu müssen, dass noch mal einer von ihnen überläuft, denn auch die werden wieder lammfromm sein. Das Gas ändert die Gehirnstrukturen, die Menschen werden umprogrammiert wie Roboter. Das Mittel wird uns reich machen! Wir werden es an alle anderen Kuppelstädte verkaufen. Mit den Einnahmen können wir eine neue Luftflotte aufbauen, um eines Tages Herrscher über sämtliche Städte zu werden.« Er lacht irre und kommt mir vor wie ein durchgeknallter Gott.
Aber das ist mein Vater. Und ich bin die Einzige, die ihn im Moment aufhalten kann.
***
Wie ein Zombie schleiche ich durch meine Wohnung und fühle mich leer. Ich sollte längst gepackt haben, Vater wird bald rufen. Eine Dusche könnte ich auch vertragen, aber ich bin kraftlos und habe Lust auf nichts, weiß nichts, mein Kopf ist leer. Stattdessen schiebe ich die Terrassentür auf, um Luft hereinzulassen. Abgestandene Kuppelluft. Die Tür war nur angelehnt, verschließen brauchte ich sie nie. Wozu auch? Niemand kann hier oben einsteigen, und da es in White City kein Wetter gibt, muss ich nicht fürchten, dass es in mein Apartment hineinregnet.
Seit ich weiß, wie die Welt da draußen aussieht und duftet, will ich keine andere Luft mehr atmen und die prickelnden Sonnenstrahlen auf meiner Haut genießen, auch wenn sie mir offenbar nicht bekommen.
Ich bin müde, unendlich müde. Nicht nur, weil ich zu wenig geschlafen habe, sondern weil ich nicht weiß, wie es weitergehen soll. Ohne Ice und mit dem Wissen, dass den Menschen in White City bald etwas Furchtbares blüht. Und danach geht es den Resurern an den Kragen.
Erschöpft werfe ich mich auf mein Bett und drücke die Nase ins Laken. Sein Duft hängt immer noch im Stoff, tief atme ich ihn ein – was leider dazu führt, dass mein Herz noch mehr schmerzt. Ich wünsche mir, Ice wäre in meinem Badezimmer und würde jede Sekunde ins Schlafzimmer treten, nackt, mit diesem verruchten Lächeln, das er in meiner Gegenwart aufgelegt hat.
Tatsächlich glaube ich, seine Blicke auf mir zu fühlen und seinen Geruch nach Mann und Aftershave überall zu riechen.
Mein Gehirn spielt mir böse Streiche.
Nein, ich halte es hier nicht aus, alles erinnert mich an die wenigen schönen Stunden, die wir hatten.
Schwerfällig krieche ich aus dem Bett und trete auf die Dachterrasse. Es ist beinahe Mittag, doch statt der gewohnten Ruhe vernehme ich Rufe. Die Menschen sind immer noch in Aufruhr, offenbar geht niemand seiner Arbeit nach.
Ich sehe über die Brüstung nach unten, dort befinden sich Leute mit Plakaten. Demonstranten? Sie marschieren vor dem Gebäude auf und ab und rufen Parolen, die ich hier oben nicht verstehe. Doch eines wird klar: Sie wollen Gerechtigkeit, wollen eine Erklärung für all das, wollen sich nicht länger unterdrücken lassen.
Seufzend schließe ich die Augen und lehne mich ans Geländer. Bald werden sie alle tun, was der Senat von ihnen verlangt. Heute Abend leben hier wirklich Zombies.
Wie kann ich Andrew und die anderen warnen? Ich habe keinerlei Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten. Ich weiß nicht einmal, wo sie alle stecken. Bis hierher war der Plan durchdacht, aber jetzt geht es nicht weiter.
Ich solle Andrew vertrauen, hat er gemeint. Ich habe ihm angesehen, dass er mir etwas verschweigt. Nur was und warum? Und wie soll alles gut werden? Nachdem ich weiß, was der Senat vorhat, wird auch Andrew dem Gas ausgesetzt sein.
Das darf ich nicht zulassen!
Soll ich Vater töten? Das wird mir nicht gelingen,
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