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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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notgedrungen zu.
    Dann flatterte ihr ein Zielkatalog ins Haus, der ihr seltsam bekannt vorkam. Sie schaute in ihre Unterlagen und stellte fest: Ihr Chef hatte einfach die Ziele des Vorjahres kopiert. Was für eine Unverschämtheit! Sie bat ihn, neue Aspekte aufzunehmen. Doch er antwortet mit einer Mini-Mail: »Zielrichtung noch dieselbe. Kein Kurswechsel sinnvoll.«
    Die Mitarbeiterin war stinksauer – tagelang hatte sie über sinnvolle Ziele nachgedacht und diese mit ihrem Chef diskutieren wollen. Nun bekam sie Second-Hand-Ziele verordnet. Da half es auch nicht, dass die Mini-Mail ihres Chefs mit einem Smiley endete.
    Doch der Flurschaden, den mailende Führungskräfte anrichten, kann noch viel größer sein. Das bewies ein Elektrokonzern: Mehrere Führungskräfte hatten sich per Mail ausgetauscht. Es ging darum, wer in einen Qualitätszirkel beordert werden sollte. Jeder Chef beurteilte, für wie geeignet er seine jeweiligen Mitarbeiter hielt.
    Dabei wurde in Schwarzweiß gezeichnet. So schrieb ein Chef über seinen Mitarbeiter, der für das Projekt angefragt worden war: »Leider nur ein Mitläufer. Keine Initiative. Für Innovationen ungeeignet.« Und eine andere Führungskraft bescheinigte einer Mitarbeiterin: »Viel zu leicht beeinflussbar. Hat keine eigene Meinung. Taugt für Umsetzung, nicht für Diskussionsprozesse.« Und ein älterer Mitarbeiter bekam die nicht gerade schmeichelhafte Bewertung: »Sein Wissen ist von vorgestern. Er hält immer nur am Alten fest. Wäre ein Bremsklotz.«
    Je länger die Chefs sich über ihr Personal austauschten, desto mehr geriet ihr Mailwechsel zu einer Lästerorgie. Dann passierte das Missgeschick: Einem Abteilungsleiter rutschte ein Mitarbeiter in den Verteiler. Und so gelangte die verbale Hinrichtung in die Hände der Delinquenten.
    Es gab einen Riesenärger! Und die Abteilungsleiter übten sich im Rausreden. Einer sagte zu seinem Mitarbeiter: »Das war doch nur ein taktischer Schachzug! Ich wollte Sie nicht an die Projektgruppe abtreten.« Und der ältere Mitarbeiter, der als Bremsklotz verunglimpft worden war, hörte staunend: »Das war nur ein Vorwand! Ich bin der Meinung, dass Sie sich in Ihrem Alter nicht mehr mit solchen Projekten herumärgern müssen.«
    Die Insassen glaubten kein Wort. Die Wahrheit lag ihnen vor. Schriftlich!
    Einen virtuellen Super-Gau hatte kürzlich auch ein Konzern in Norddeutschland zu beklagen. Ein langjähriger Mitarbeiter, stets Vorbild an Fleiß, war im Zuge eines Sparprogramms auf die Abschussliste geraten. Doch sein junger Chef drohte ihm: »Entweder Sie gehen mit Abfindung. Oder ohne!«
    Der Mitarbeiter gab nach. Doch an seinem letzten Arbeitstag holte er zu einem Racheschlag aus: Er schrieb eine Wutmail. Wie der Schriftsteller Peter Handke, der einst sein Publikum beschimpfte, zog der frustrierte Ingenieur über sein Irrenhaus her. Er beschrieb, wie in seiner Abteilung die Qualitätsmaßstäbe immer mehr gesenkt, die besten Mitarbeiter entlassen und die fähigen Zulieferer aus dem Geschäft gedrängt worden waren. Und er bezeichnete sein Unternehmen, für das er über 20 Jahre gearbeitet hatte, als eine »völlig durchgeknallte Profitmaschine, die sich selbst zerfleischen wird«.
    Dieser deftige Abschiedsgruß, drei A4-Seiten lang, ging an den Gesamtverteiler des Unternehmens: an 12 000 Mitarbeiter. Schon nach wenigen Minuten liefen die Telefone heiß, Mitarbeiter stießen sich auf den Gängen an, und in der Raucherecke brummte es; die Mail erlangte Kultstatus, wurde an Pinnwände geheftet, in Teamrunden diskutiert und heimlich an Kunden weitergeleitet. In dem Konzern brodelte es wie in Ägypten vor der Revolution.
    Aber wie sollten die Irrenhaus-Direktoren auf eine Anschuldigung reagieren, die 12 000 Mitarbeitern zugegangen war? Man griff zur selben Waffe: dem Großverteiler. Und so ließ die Irrenhaus-Direktion eine Richtigstellung versenden, die den Mitarbeiter als einen rachsüchtigen Übertreiber darstellte.
    Diese Mail goss Öl ins Feuer. Als hätte man einer jubelnden Fußball-Fankurve klarmachen wollen, dass der dreifache Torschütze, den sie gerade feierte, zwei linke Füße hatte – es kam zu Verbal-Krawallen.
    Monate dauerte es, bis die Flammen des Zorns abnahmen. Noch heute können Mitarbeiter des Konzerns die Mail des Kollegen passagenlang

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