Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Penny Hancock
Vom Netzwerk:
einen anderen Weg hätte nehmen können, wenn er gewollt hätte. Per Anhalter durch den Blackwall Tunnel oder mit dem Zug von der Londoner Innenstadt runter zum Bahnhof Westcombe Park oder der Haltestelle Maze Hill. Ich wusste, dass für Seb alles außergewöhnlich sein musste. Er war immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Wie ich Seb kannte, hätte er womöglich beschlossen, dass wir gar nicht nach Greenwich zurückfahren würden. Er hätte vielleicht hinauf zum Tower fahren wollen oder sich runter nach Dartmoor treiben lassen, wenn die Gezeiten gewechselt hätten. Der Unterschied zwischen einem Floß und der Fähre ist, dass man auf dem Floß dahin fahren kann, wohin man will, wenn man den Fluss richtig liest.
    Es gab noch einen Grund, meinen Grund. Ich wollte Seb unbedingt beweisen, dass ich den Fluss besser als jeder andere verstand. Ich konnte im Regen bei Anbruch der Nacht ein Floß auf ihm steuern, kein Problem. Er hatte gesagt, ich sollte Tamasa mitbringen, und ich wollte nicht kneifen. Nicht einmal, als ich die aufziehenden Sturmwolken sah. Mein Stolz ist mir zum Verhängnis geworden, und auch Seb. Ich dachte, ich wäre dem Willen des Flusses gewachsen.
    Ich wende mich vom Fenster ab. Mir ist schwindlig, ich fühle mich benommen. Muss mich an den Wänden abstützen, als ich nach unten in die Küche gehe. Ich brauche einen süßen Tee. Im Wohnzimmer klingelt das Telefon, es hört gar nicht auf. Ich will keine weiteren Eindringlinge. Außer mit Jez will ich mit niemandem zu tun haben. Ich will das Zimmer auch gar nicht betreten, aber ich befürchte, der Gestank von Helens Erbrochenem könnte sich gehalten haben. Ich öffne die Tür und schnuppere. Nur ein Hauch vom Feuer ist noch zu riechen. Ich sehe unter den Stühlen und den Kissen nach. Mit den Händen stütze ich mich auf dem Sofa ab. Wo ist ihre Leiche jetzt? Sie wird zurückkommen. Genau wie das Meer gibt der Fluss seine Toten wieder her. Vielleicht nicht heute. Und, wenn ich die Gezeiten richtig abgeschätzt habe, nicht hier. Vielleicht am Blackwall Reach oder weiter unten in Woolwich oder Tilbury. Meine Gedanken schwenken wie ein vertäutes Boot zu gestern Nacht, zu ihren Beinen, die zuckten, während ich mich auf das Kissen lehnte, dem klumpigen Erbrochenen, nachdem ich das Kissen aus ihrem Mund gezogen hatte. Zu ihrem orangefarbenen Minirock im dunklen Wasser.
    Ich gehe nach draußen, weil ich über die Mauer sehen muss, weil ich sicher bin, dass der Fluss etwas zurückgelassen hat. Es regnet nicht mehr, und das Wasser steht noch niedrig. Ich suche das Ufer nach Helens kirschrotem Schal ab, einem Granatohrring. Einem Stiefel. Da liegen nur Steine und Tonpfeifen, eine weiße Plastikurne. So etwas sieht man oft dort unten. Die Urnen werden in den Fluss geworfen, nachdem die Asche verstreut ist. Asche von Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben sind und einen anständigen Abschied bekommen haben. Ich schaudere. Helen hat so etwas nicht bekommen. Aber sie hat es provoziert. Sie hätte nicht zu mir kommen und sich Hilfe erhoffen dürfen. Ich habe schon genug Probleme.
    Die Luft ist drückend. Vom Flussbett steigt Gestank auf. Vielleicht verbranntes Gummi. Ein Rettungsboot fährt vorbei, die Wellen laufen bis an den Strand. Irgendwann, ich weiß nicht, wie lange es dauert, drehe ich mich um. Es ist getan, ich kann nicht zurück. Gedanken stieben durch meinen Kopf. Das Kissen. Ich muss es trocknen. Aber der Geruch. Wenn er sich gehalten hat, wird es jemand herausfinden. In der Küche ziehe ich das Kissen aus der Waschmaschine, rieche daran und klammere es an die Leine, damit es trocknet.
    Schließlich gehe ich zu Jez ins Musikzimmer. Dafür lohnt sich alles. Er ist wach. Ein einzelner Sonnenstrahl fällt durch die Oberlichter auf die Härchen an seinem braunen Arm, der über seinem Kopf auf dem weißen Kissen liegt.
    Er lässt mich zu sich kommen. Ich nehme ihn in die Arme. Und als er den Kopf gegen meine Brust lehnt, stelle ich mir vor, er wüsste, dass Helen tot ist, ohne dass ich es ihm sagen muss.
    Ich muss meine Mutter besuchen, und danach will ich den Tag mit Jez verbringen. Aber als ich eine Stunde später die Hoftür öffne, sehe ich Alicia auf der Mauer sitzen, an der gleichen Stelle, von der ich Helen gestoßen habe. Wenn ich Alicia jetzt schubsen würde, würde sie über die Mauer fallen, genau wie Helen, nur rückwärts statt mit dem Gesicht voran. Allerdings würde sie wahrscheinlich nicht sterben. Mittlerweile weiß ich, dass

Weitere Kostenlose Bücher