Ich beschütze dich
wird auch sie dunkel, als sie sich voll Wasser saugt, und bald sehe ich nur noch die orangefarbene Rückseite ihres Rocks und die Unterseite eines Fußes, die Kreppsohlen ihrer hübschen Stiefel. Nach den Erfahrungen, die ich im Laufe der Jahre beim Strandwandern gesammelt habe, werden sie als einziger Teil ihrer Kleidung den Hunger des Flusses überleben. Es tut mir richtig leid, dass ihre ganze wunderbare Garderobe vergeudet ist.
Warum geht sie nicht unter? Sind die Polizeiboote nicht genau deshalb so beschäftigt, weil Menschen ohne eine Spur auf den Grund des Flusses sinken?
Ich gehe zurück in den Hof und finde die Hacke mit dem langen Griff, die ich vor ein paar Tagen aus der Garage geholt habe. Ich muss mich über die Mauer beugen, um Helen damit zu erreichen, sie anzustoßen. Trotzdem kommt die Kreppsohle wieder nach oben. Als ich fester zustoße, treibt Helen von der Wand weg. Schließlich wird sie von der Strömung erfasst. Sie dreht sich, ihr Stiefel tanzt im Mondlicht ein seltsames Solo.
Irgendwann, ich weiß nicht, wie lange es dauert, dümpelt ihre Stiefelsohle davon, die Strömung hat offenbar gedreht und trägt sie flussabwärts Richtung Blackwall. Ich warte, um sicherzugehen, dass sie nicht noch einmal dreht. Dass der Fluss nichts Abartiges vorhat und sie zu mir zurückbringt. Ich warte fünf, zehn Minuten.
Der Mond scheint, er wirft einen silbrigen Glanz auf das Wasser. Er vermischt sich mit dem Licht der Laternen, das am Ufer entlang tief in den Fluss dringt. Mich erfüllt plötzlich Frieden.
Ich rühre mich nicht. Direkt über mir fliegt ein Flugzeug vorbei. Auf der anderen Seite des Flusses gehen flackernd Lichter an, das helle Leuchtsignal auf dem Canada Tower schaltet sich ein, aus, ein, aus. Eine Schar Schwäne paddelt näher. Sie starren in das tiefe Wasser. Dann schmiegen sie sich in der Nähe der Mauer aneinander, als hätten sie nach genau dieser Stelle, Helens letzter Ruhestätte, gesucht, um hier zu schlafen.
Irgendwann drehe ich mich um. Ich sehe nicht mal richtig den Fußweg entlang, bevor ich den Rollstuhl zurück durch die Tür in der Mauer, über den Hof und ins Haus schiebe. Ich falte die Decke zusammen und verstaue sie im Flurschrank. Den Rollstuhl stelle ich zusammengeklappt unter die Treppe. Es ist geschafft. Ich fühle mich seltsam ernüchtert, als hätte ich Applaus verdient, aber nicht bekommen.
Jetzt kann ich noch nicht schlafen. Irgendwas zieht mich zu Helens Haus, ich will sehen, ob bei Mick nach seinem Anruf noch Licht brennt, ob er noch auf Helen wartet oder aufgegeben hat und schon schläft.
Wieder gehe ich hinaus und laufe über den Fußweg zu meinem Auto. Bis zu Helen ist es nicht weit. Meine Augen brennen vor Müdigkeit, als ich vorsichtig durch die verlassenen Straßen fahre. Ich parke gegenüber von Helens Haus, überquere die Straße und gehe rasch auf das Eingangstor zu. Nirgendwo brennt Licht. Mick hat aufgegeben und ist ins Bett gegangen. Ich betrachte die dunklen Fenster. Welches gehört zu ihrem Zimmer? Das rechte, glaube ich. Mick wird allein in ihrem Doppelbett liegen und glauben, Helen würde jeden Moment nach Hause kommen. Er ahnt nicht, dass ihr Platz zwischen den Laken immer leer bleiben wird, und bei diesem Gedanken steigt ein Schluchzen in meiner Kehle auf.
Ich will gehen, aber meine Füße sind wie angewurzelt. Mein Gott, mein Gott, was habe ich getan? Ich lehne mich an den Torpfosten, einen Pfeiler aus kaltem Beton, und lege den Kopf dagegen. Ein paarmal schlage ich mit der Stirn dagegen.
Endlich schaffe ich es zurück zum Auto und fahre schnell nach Hause. Ich zittere, als ich die Tür in der Mauer aufschließe. Ich gehe sofort nach oben ins Musikzimmer, weil ich ihn dringend sehen muss.
Jez schläft so ruhig, dass ich erst nicht glauben kann, dass er noch lebt. Weil er sich auf dem Eisenbett nach hinten gerollt hat, kann ich mich hinlegen, ohne ihn zu stören. Ich rutsche näher und hebe sanft sein Haar an. Ich drücke die Lippen in das Tal in seinem Nacken. Atme durch die Nase den stechenden Geruch seiner Haare ein. Lege eine Hand auf seine kantiger gewordene Hüfte. Ich habe ihn. Sie können ihn mir nicht wegnehmen. Ich habe für ihn getötet. Nachdem ich so weit gegangen bin, werde ich alles tun, was nötig ist, damit er bleibt, wie er ist, um ihn bei mir zu behalten, für immer.
K APITEL F ÜNFUNDDREISSIG
Dienstag
Sonia
Die Dämmerung kann nicht mehr weit sein, als ich in mein eigenes Zimmer zurückhusche. Dort überwältigt
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